Hannas Wahrheit (German Edition)
Dorf abgebogen waren. Das kleine Häuschen seiner Schwester, die Kinder, sie selbst, die Kinder beim Spielen. Ihre Entdeckungstour mit dem Jungen durch den Garten. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie fühlte Tränen in ihren Augen, als sie das letzte Bild von dem kleinen Jungen sah. Sein Gesicht, und wie er ihr durch das Objektiv zuwinkte.
„Er wäre ein guter Fotograf geworden, mit der richtigen Anleitung. Ich habe selten Bilder gesehen, die mich so tief berührt haben.“ Seine Stimme war sanft. Sie streichelte Hanna, weckte Sehnsucht in ihr. Woher wusste er, dass es der kleine Junge war, der die Bilder gemacht hatte? Er war offenbar ein aufmerksamer Beobachter.
Sie hob den Kopf und sah in seine sanften, nun grauen Augen. Sein Gesicht war offen, die strengen Linien hatten sich aufgelöst. Seine Traurigkeit und sein Schmerz waren sichtbar. „Es tut mir leid. Ich wünschte, wir hätten es verhindern können.“
Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, ohne dass sie dagegen ankam. Er war wie ein kraftvoller Magnet. Sie war während der letzten Stunden dem Tod viel zu nahe gewesen und hatte bei dem Jungen schon einmal ihre Mauern fallen lassen. Sie sehnte sich nach einer Berührung, nach einer tröstenden Umarmung. Einmal nicht die Starke sein zu müssen, sondern gehalten zu werden.
Seine Körperhaltung spannte sich an, als sie sich ihm näherte. Sie hockte sich auf die Fersen, streckte vorsichtig die Hand aus. Die Haut seines Gesichts war unter ihren Fingern abwechselnd weich und rau. Sie schloss ihre Augen, jede Berührung war ein Impuls, der in Form von Energie durch ihren Körper pulsierte. Die Welt um sie herum geriet in Vergessenheit. Sie versuchte, das Bild seines Gesichts mit den Fingern nachzuzeichnen, die Augen geschlossen. Dabei spürte sie Falten, Unebenheiten, eine Wölbung und eine leichte Schwellung am Nasenbein. Er verharrte reglos auf seinem Stuhl. Sein Abwarten ließ sie mutiger werden, es war wie eine neue Erfahrung voller Lebendigkeit. Sonst erkundete sie ein Gesicht nur über ihren PC, nie mit ihren Händen. Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seine Lippen, sie konnte den lächelnden Bogen fühlen, und sein Lächeln übertrug sich auf sie.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Ohne zu wissen, was sie tat, wieso sie es tat und warum sie es nicht stärker kontrollieren wollte, näherte sie sich seinem Gesicht. Warmer Atem streifte ihre Wange. Sein Mund war unter ihren Lippen noch weicher. Hanna hatte keine Erfahrung mit Küssen. Sie löste ihre Lippen von seinen, verharrte und wartete darauf, dass etwas Furchtbares passierte. Sie konnte die Enge in ihrer Kehle spüren. Aber es passierte nichts, gar nichts. Wieder öffnete sie die Augen, die sie bei dem Kuss geschlossen hatte. Seine Hände lagen auf der Stuhllehne, er machte keine Anstalten, sich zu nähern oder sie zu packen. Sie sah in seine nebelgrauen Augen, suchte nach der Gewalt darin und fand sie nicht. Bei ihm war alles Kontrolle, und auf einmal wollte sie, dass er sie verlor. Ihre Panik war weggewischt, stattdessen nahm die Neugierde überhand. Sie rutschte ein Stückchen näher, ließ ihre Hand von seinem Hals den Nacken hochwandern und legte ein zweites Mal ihre Lippen auf seine. Sie schreckte nicht zurück, als er vorsichtig ihren Kuss erwiderte. Seine Zunge berührte ihre und sie hielt, erschrocken über die Intensität des Gefühls, den Atem an. Sachte zog er seinen Kopf zurück.
„Sorry“, flüsterte er leise, „aber ich habe jemandem versprochen, meine Finger von dir zu lassen.“ Er lächelte schief. „Ich halte meine Versprechen.“
Bis zu diesem Moment war Hanna von dem, was sie machte, völlig verunsichert. Sie hatte keine Ahnung, was sie wollte oder weshalb sie sich einem wildfremden Mann an den Hals warf. Jemandem, von dem sie noch kurz zuvor angenommen hatte, dass er sie vielleicht umbringen wollte. Oder war genau das der Reiz? Ihr Hang zum Risiko, bis an die Grenzen zu gehen und noch ein Stück darüber hinaus? Sein Rückzug war ein Signal, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Sie musste das, was gerade mit ihr passierte, weiter erforschen, konnte nicht innehalten.
„Dann behalte deine Finger bei dir.“
Sie küsste ihn ein weiteres Mal, diesmal ohne jede Zurückhaltung, gleichzeitig zog sie ihn mit ihren Händen von seinem Stuhl. Sein Widerstand war kurz, dann lag er in ihrem Bett, sein Kopf dicht unterhalb des Kissens. Sie legte sich auf ihn. Während sie ihn küsste, zog sie ihm erst die Jacke
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