Hannas Wahrheit (German Edition)
und begann zu skizzieren, ohne zu wissen, was sie zeichnete. Schließlich sahen ihr die aufmerksamen Augen des kleinen Jungen entgegen. Sie starrte das Bild an, dann begann sie, es zu zerreißen. In immer kleinere Stücke, bis sie so winzig waren, dass sie die Fetzen wie Schnee in den Papierkorb rieseln lassen konnte.
Erneut kuschelte sie sich in ihr Bett ein. Zu Hause würde sie wieder an ihrer Selbstverteidigung arbeiten müssen. Ihre Reflexe waren völlig eingeschlafen. Sie wollte sich nie wieder hilflos fühlen, und doch war sie nicht in der Lage gewesen, sich zu wehren. Angst durfte sie nicht lähmen. Als sie an die blutende Nase des Majors dachte, huschte ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte sich gewehrt, ja. Er war einfach besser trainiert, und sie hatte nicht ihren Verstand eingeschaltet, sondern sich von ihren Gefühlen überwältigen lassen.
Hanna drehte sich auf den Rücken, sie konnte das Gesicht des Mannes über sich schweben sehen. Dieser kurze Ausdruck von Mitleid, der über sein Gesicht huschte, als er ihre Angst bemerkte. Seine Kühle und Beherrschtheit, als sie den Chip hervorfischte. Kein schmutziges Grinsen, keine anzügliche Regung seines Körpers auf ihrem. Sie verstand das nicht, immerhin hatte er die Macht über sie gehabt. Nachdenklich starrte sie in die Dunkelheit, visualisierte sein Gesicht, spürte ihrem Verlangen nach, ihn zu berühren. Wie konnte ein Mensch auf der einen Seite bereit sein, einem anderen Gewalt anzutun, und auf der anderen Seite sich völlig unter Kontrolle haben? Sie konnte die Wärme seiner Hand auf ihrer Hüfte spüren. Zart strich sie sich über die Stelle. Entsetzt hielt sie inne. Was tat sie da?
Mit klopfendem Herzen presste sie ihren Kopf in das Kissen. Warum fühlte sie keine Trauer? Warum konnte sie nicht weinen? Warum war sie nicht erleichtert, dass sie lebte? Stattdessen dachte sie an Sex. Etwas, das ihr sonst nie in den Sinn kam. Sie musste doch krank sein. Ärgerlich warf sie die Decke weg, stand auf, holte sich ihren Laptop und ihre Speicherchips. Sie würde keinen Schlaf finden, also konnte sie genauso gut etwas Sinnvolles tun und die Bilder sortieren. Vielleicht würde sie das von ihren verqueren Gedanken ablenken.
Nacht
M it gekreuzten Beinen setzte sich Hanna Rosenbaum auf ihr Bett. Schokolade in sich hineinstopfend, den Laptop auf dem Schoß, begann sie mit der Arbeit. Immer wieder stieß sie auf Ochuko Mutai. Sein Profil, wie er konzentriert am Steuer saß. Sein Gesicht im Widerschein des Lagerfeuers, als er eine Geschichte seines Volkes erzählte. Oder wie er mit Harald Winter auf dem Plateau stand, die untergehende Sonne im Rücken, er zeigte mit der Hand auf das Land unter ihnen. Sein Gesicht war dabei weich und voller Stolz. Da stand jemand, der sein Land liebte. Sie schluckte. Empfand sie das Gleiche für ihr Land?
Hanna konnte in ihrem Kopf noch immer die Schüsse aus den Gewehren und das Staccato der Maschinenpistolen hören. Wer gab diesen Fanatikern solche Waffen in die Hände? Sie fragte sich, ob sie als Letztes das Foto von dem Typen, der sie hatte erschießen wollen, noch gemacht hatte. Als sie die Augen schloss, konnte sie ihn wieder durch das Objektiv ihrer Kamera sehen. Erstaunt öffnete sie die Augen und schüttelte den Kopf. Nein, das waren keine Fanatiker gewesen. Er hatte gezögert, sonst wäre sie nicht mehr am Leben.
Was würde das Militär mit ihren Bildern machen? Wären sie die Rechtfertigung für einen Gegenangriff? Würde es den Angreifern den Tod bringen? Hanna suchte nach ihren Gefühlen für diese Männer, die das Dorf angegriffen und so viele Menschen getötet hatte. Sie erinnerte sich an ihre Gespräche mit Ochuko Mutai. Es waren keine Dialoge gewesen, ihre Schweigsamkeit war es gewesen, die sie auf eine eigenartige Weise verband. Wenn er von seinem Land redete, verwendete er Worte, die Hanna an eine Krankheit denken ließ. Er sprach von Wunden oder Geschwüren, die sein Land prägten. Oder von einem Fluss, der es zerschnitt.
Afrika war für sie ein unverständliches Land. Schönheit und Grausamkeit hielten sich die Waage, wie Schein und Sein. Ein Flusspferd, das gemütlich und behäbig aussah, konnte gefährlicher sein als ein Löwe. Was für ein Motiv konnte es geben, ein ganzes Dorf zu zerstören? Ein Kampf zwischen zwei verfeindeten Stämmen? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie musste aufhören, sich solche Gedanken zu machen, das konnte gefährlich werden. Sie hatte in ihrem Leben
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