Hannas Wahrheit (German Edition)
verblüfft nach.
Hanna wusste, ihre Schwester sagte das nicht aus moralischer Empörung, sondern weil sie, Hanna, die Gebote der Kirche selbst sehr ernst nahm.
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Doch, hast du, weil du ihn als Mistkerl betitelt hast.“
„Zu dem Zeitpunkt wusste ich es nicht.“ Das war noch nicht mal gelogen. Immerhin konnte es gut sein.
„Das macht es nicht besser“, erklärte Marie.
Überrascht hob Hanna den Kopf. Marie legte ihr Besteck beiseite und schob ihren Teller von sich. Besorgt eilte der Kellner herbei, um sich zu erkundigen, ob etwas nicht in Ordnung sei.
Hanna nutzte die Verschnaufpause, um Marie zu mustern. Ihre Schwester wirkte unter ihrem Make-up müde und erschöpft. Außerdem kam es ihr vor, als hätte sie weiter abgenommen. Das alles gefiel ihr nicht.
Ihre Schwester hatte den Kellner inzwischen überzeugt, dass alles in Ordnung sei und sie nur kein Appetit mehr habe. Daraufhin kam er mit einem Kaffee und ein paar sehr feinen Gebäckstücken zurück. Marie trank den Kaffee, rührte das Gebäck jedoch nicht an. Seit sie mit Lukas verheiratet war, achtete sie mehr als je zuvor auf ihre Figur. Ein weiterer Punkt, den Hanna ihrem Schwager negativ ankreidete.
„Also gut, wenn ich von meinem Auftrag zurückkomme, feiern wir zwei unseren Geburtstag nach. Einverstanden?“, lenkte sie ein, um ihrer Schwester eine Freude zu machen.
Marie begann zu strahlen. Hanna spürte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte nie Wert auf den Geburtstag gelegt, doch Marie liebt es, ihn zu feiern, und vor allem liebte sie es, ihn gemeinsam mit ihr zu feiern. Marie empfand es immer als etwas Besonderes, dass sie Zwillingsschwestern waren. Wohingegen sie sich oft wünschte, dass es kein so anmutiges, schönes Ebenbild von ihr gäbe.
„Mit der Familie?“, hakte Marie nach.
Es hätte ihr klar sein müssen, dass Marie nie mit dem kleinen Finger zufrieden war. Sie wollte immer die ganze Hand.
„Nein.“
Marie schob schmollend die Unterlippe vor. „Schade, Mama würde es so viel bedeuten.“
Hanna schwieg, und Marie auch. Sie hasste es, wenn Marie aufhörte zu reden. Es war, als würde ihre Schwester still in ihrem Kopf weiterreden. Sie kämpfte sich durch ihr Eis, das sie zum Nachtisch bestellt hatte. Mit einem Seufzer gab sie sich geschlagen.
„Du, ich, Mama, Lukas und Armin, nicht mehr als zwei Stunden.“
Marie strahlte sie an, was dazu führte, dass einer der Kellner über seine eigenen Füße stolperte.
Zwei Tage später begleitete Hanna Rosenbaum ihre Mutter zu einem Konzert in die Philharmonie. Das war eines der wenigen Dinge, die sie beide miteinander verbanden. Armin Ziegler mochte solche Veranstaltungen nicht, genauso wenig wie Marie Benner. Hanna hatte ihre Jeans gegen eine schwarze Hose getauscht, trug ein seidenes schwarzes Top und eine lange Strickjacke, ebenfalls schwarz. Das war ihr Kompromiss für diese Abende, den ihre Mutter dankbar annahm.
Es gab keine Musik, die Hanna tiefer berührte, als klassische Stücke. Vor allem nach einer Woche wie der vergangenen, in der sie sich ständig beobachtet und überwacht gefühlt hatte. Still lächelte sie in sich hinein, als sie daran dachte, wie langweilig die Woche für ihre Beobachter gewesen sein musste. Nichts als Arbeiten, Einkaufen, Arbeiten, Schlafen, Arbeiten, Essen.
Nun wandte sie ihre Aufmerksamkeit ganz der Musik zu, tauchte ein in die Welt der Klänge. Es war ein ganz anderes Erlebnis, in der Philharmonie dem Orchester zuzusehen, als nur die Musik von ihrem iPod zu hören. Sie sah den Streichern zu, wie sie mit ihren Händen die Töne aus ihren Instrumenten hervorzauberten. Andächtig lauschte sie dem Konzert, sie verschwand ganz in dieser Welt. Alle Gedanken, alle Bilder aus ihrem Kopf wichen dem Klang der Musik. Nur das Fotografieren besaß die gleiche Magie für sie.
Nach der ersten Hälfte hakte sich Hanna Rosenbaum bei ihrer Mutter unter. Gemeinsam gingen sie ins Foyer hinunter.
„Schade, dass du in letzter Zeit so wenig hier bist. Du hast eine Menge guter Konzerte verpasst.“
Hanna lächelte. „Ja, das tut mir auch leid.“
„Wie war dein Auftrag in Afrika? Hast du schöne Fotos gemacht?“
„Ja.“
„Und wie geht es Harry? Wird er nicht langsam zu alt für solche Touren? Er muss doch bestimmt schon auf die sechzig zu gehen.“
„Ihm geht es gut.“ Sie runzelte die Stirn. Die Fragen ihrer Mutter gefielen ihr nicht. Sie wusste, dass Silvia nicht über ihren Job begeistert war und sich für ihre
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