Hannas Wahrheit (German Edition)
Zahnschmerzen.
„Also gut, keine Party, nur du und ich“, versuchte Marie, ihr die Idee doch noch schmackhaft zu machen.
„Was ist mit Lukas?“
Überrascht zog Marie die Augenbrauen hoch. Sie sprachen selten über Lukas. Es gehörte zu den Tabuthemen, genauso wie ihr Stiefvater oder der Tod ihres Vaters. „Och, der …“ sie machte eine wegwerfende Geste. „Der ist im Moment sowieso ständig nur mies gelaunt. Lass deinen Auftrag doch fallen, mir zuliebe.“
„Nein, ich brauche das Geld.“
Hanna Rosenbaum zückte ihre Kamera, stand auf und näherte sich vorsichtig einem Spatz, der auf dem Boden Krümel pickte. Sie schoss einige Bilder, bis der Kellner den Vogel verjagte, als er das Essen brachte.
„Ich hätte einen Auftrag für dich.“ Bevor Hanna die Augen verdrehen oder etwas erwidern konnte, sprach Marie hastig weiter. „Er ist wirklich interessant und genau das Richtige für dich. Wir möchten zusammen mit der Deutschen Aids-Stiftung eine Veranstaltung machen, unter dem Motto: Das Gesicht von Aids. Wir denken, dass das Thema in gewisser Weise in Vergessenheit geraten ist und viele in Deutschland glauben, es beträfe sie nicht oder spiele keine Rolle mehr.“
Hanna beugte sich ein wenig vor. Über das Gesicht ihrer Schwester lief ein siegesgewisses Lächeln. So leicht würde sie es ihr aber nicht machen.
„Und warum wollt ihr die Veranstaltung unterstützen?“ Sie wollte sich nicht vor den Karren einer Werbekampagne von Medicares spannen lassen.
„Hanna, nur weil wir unser Geld mit Medikamenten verdienen, heißt das nicht, dass wir den Menschen nicht helfen wollen, gesund zu sein. Wer außer uns kann nachvollziehen, was es allein für eine finanzielle Belastung ist, wenn eine solche Krankheit ausbricht. Von den psychischen oder sozialen Problemen ganz zu schweigen.“
„Medicares, die Wohltäter“, spottete Hanna Rosenbaum.
Verärgert schob Marie Benner die Unterlippe vor. Eine aufreizende Geste, die bei ihrer Schwester jedoch zwecklos war.
„Wir unterstützen viele Projekte auf der ganzen Welt zum Thema Aids. In Afrika finanzieren wir ganze Dörfer, in denen Familien mit an HIV erkrankten Angehörigen leben und Hilfe erfahren können.“
„Afrika“, flüsterte Hanna leise. Ihre Gedanken wanderten zu einem kleinen afrikanischen Jungen, der ihre Kamera vor sein Gesicht hielt.
„Hanna, ist alles in Ordnung?“
Hanna wandte sich ab von der Vergangenheit und richtete ihren Blick wieder auf ihre Schwester.
„Ja.“ Es klang wenig überzeugend.
„Du bist ganz blass geworden.“
Hanna zuckte mit den Achseln. Das war kein Thema für Marie.
„Du wirst dir doch keine Krankheit eingefangen haben? Ich habe auch schon mit Lukas geschimpft, weil er nach Afrika geflogen ist, ohne seine Impfungen aufzufrischen.“
„Lukas ist nach Afrika geflogen?“
„Ja, eines der Dörfer, die wir unterstützen, ist überfallen worden. Es gab nur wenige Überlebende.“
„Wieso Lukas?“
„Weil es sein Job ist. Er ist für das Krisenmanagement zuständig, außerdem kennt er sich bei den Gesprächen mit dem Militär am besten aus. Die wollen einem immer etwas anhängen, als ob wir unser eigenes Projekt in die Luft jagen würden.“
Unwillig schüttelte Marie ihren Kopf. Hanna fühlte, wir ihr ein Kribbeln über den Rücken lief. Afrika. Militär.
„Das Dorf liegt nicht zufällig in Nigeria, und zwar in der Nähe von Zaria?“
Ihre Schwester sah sie mit schmalen Augen an. „Woher weißt du das?“
„Harry und ich waren in Nigeria, vergessen?“, verteidigte sich Hanna.
„Ihr wart in dem Dorf?“
„Nein“, log sie.
„Nein?“ Marie zog skeptisch die Augenbrauen hoch. Instinktiv suchte Hanna nach einer passenden Ausrede. Wenn Marie erfuhr, dass sie in dem Dorf gewesen war, würde sie es ihrer Mutter erzählen. Marie hatte noch nie ein Geheimnis für sich behalten können. Sie wollte nicht, dass sich ihre Mutter noch nachträglich Sorgen machte.
„Wir haben die militärischen Vorbereitungen am Flughafen mitbekommen.“
„Du lügst.“
Hanna holte tief Luft, diesmal musste sie es besser machen. Sie sah in die Augen ihrer Schwester, wusste, dass sie sie im Grunde nicht belügen konnte, wenn sie nicht selbst belogen werden wollte.
„Tue ich nicht.“
Sie sah, wie Marie mit sich kämpfte und ihr glauben wollte. Im Grunde war ihre Schwester ein Mensch, der sich nur mit schönen Dingen im Leben umgab. Sie sah die ganze Welt durch eine rosarote Brille, obwohl sie es besser hätte
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