Hannas Wahrheit (German Edition)
über den Rücken gelaufen. Statt sich in Sicherheit zu bringen, hatte Hanna Rosenbaum ein Foto nach dem anderen geschossen. Sie konnten sehen, wie der Mann erst den Jungen erwischte, dann einen weiteren Mann, zuletzt schien er die Anwesenheit der Fotografin zu spüren. Der Söldner richtete die Waffe auf sie, nahm sie ins Visier, dann zögerte er. Entweder wegen ihrer Hautfarbe oder wegen der Kamera. Letztlich hatte ihr dieses Zögern das Leben gerettet, denn kurz darauf war der Angreifer von einer Kugel getroffen zusammengebrochen.
Für ihn offenbarten diese Bilder einen neuen Charakterzug von Hanna Rosenbaum. Entweder war sie lebensmüde oder absolut unbesonnen, wenn es darum ging, sich nur mit einer Kamera bewaffnet in einen solchen Konflikt zu stürzen. Seitdem bekam Major Wahlstrom sie gar nicht mehr aus dem Kopf. Die Widersprüchlichkeit in ihrer ganzen Art beschäftigte ihn Tag und Nacht. Verschlossen, schweigsam, distanziert, kalt und zornig in ihrem Erscheinen – und sensibel, weich, tief und emotional in ihren Bildern und beim Sex. Wahlstrom verordnete sich ein hartes Training, damit er seine Konzentration behielt. Normalerweise machte ihm sexuelle Abstinenz nichts aus; das war er von seinen Einsätzen her gewohnt, und seine letzte lange Beziehung lag drei Jahre hinter ihm. Da er weder mit seinen Kameradinnen schlief, noch auf One-Night-Stands Wert legte, war ihm in den letzten Jahren nicht viel übrig geblieben als Abstinenz.
Er war gerade fertig mit Duschen, als Oberleutnant Schulte kam.
„Oberst Hartmann möchte dich sprechen. Du sollst in die Botschaft kommen.“
Überrascht zog Wahlstrom die Augenbrauen hoch. Es kam nicht häufig vor, dass ihn der Oberst in die deutsche Botschaft bestellte. Ihre Einheit stellte einen Versuch der Zusammenarbeit dar von Bundeskriminalamt, Bundespolizei, GSG 9, Militär und militärischem Sonderkommando, KSK, zu dem er gehörte. Verbrechen machten nicht vor Grenzen halt oder unterteilten sich freundlicherweise in die verschiedenen Zuständigkeitsbereiche der polizeilichen und militärischen Behörden, also versuchten sie, ebenfalls zu kooperieren und zusammenzuarbeiten, was sich politisch gesehen und durch die Befehlsstruktur als schwierig erwies. Das Militär unterstand dem Verteidigungsministerium und die Polizei dem Innenministerium. In der Realität war jedoch sowohl das BKA mit der Abteilung Personenschutz, die Bundespolizei in seiner Funktion des Schutzes von deutschem Territorium als auch das Militär im Ausland vertreten. Sie alle zogen an einem Strang und teilten die Informationen; im Grunde genommen eine sinnvolle, logische Konsequenz, zumindest inoffiziell.
Oberst Karl Hartmann stellte die Schnittstelle zwischen Militär und Behörde dar. Nur deshalb hatten sie bei der Vernehmung von Hanna Rosenbaum auf die Räumlichkeiten der Polizeikräfte zurückgreifen können. Genauso teilten sie sich die eine oder andere personelle Ressource, so gehörte Paul Gerlach offiziell zum BKA. Der Trojaner, den sie bei Hanna Rosenbaum und bei Harald Winter eingesetzt hatten, war von Paul Gerlach programmiert worden. Das Militär hätte niemals den Computer eines Zivilisten infizieren dürfen.
Dass Oberst Hartmann als Schnittstelle zwischen den Behörden fungierte, besaß einen Grund. Vor knapp zehn Jahren gehörte Karl Hartmann zum BKA, damals war er zunächst beim mobilen Einsatzkommando, MEK, tätig. Sein Wechsel in die Offizierslaufbahn des Militärs war eher ungewöhnlich. Dass er zum KSK zählte, war nur dem militärischen Führungsstab bekannt. Alle Männer und Frauen im aktiven Dienst dieser Einheit genossen aus sicherheitstechnischen Gründen Anonymität. Lediglich ihr Brigadegeneral stand öffentlich im Internet, mit Bild.
Er zog sich Alltagskleidung an, sein Dienst war sowieso für heute beendet, und machte sich auf den Weg in die deutsche Botschaft.
„Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.“ Oberst Karl Hartmann warf ihm eine Kladde zu. Wahlstrom schlug sie auf, seine Augen flogen über die Schriftstücke. Wortlos organisierte ihm der Oberst einen Kaffee und ließ ihn lesen. Nach einer Weile hob Wahlstrom überrascht den Kopf. „Wir haben sie überwacht und belauscht?“
„Ja, wir wollten sichergehen, und ein wenig schwang Hoffnung mit.“
„Inwiefern?“
„Na ja, eine der Stiftungen, die dieses Dorfprojekt finanzieren, ist die Medicares GmbH & Co. KG.“
„Und?“
„Ein familiengeführtes Pharmaunternehmen seit drei
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