Hannas Wahrheit (German Edition)
nicht zu einer bestimmten Uhrzeit auftauchen. Meistens stand er um acht Uhr auf und ging zur Arbeit. Als sie aus dem Bad kam, war es Viertel vor acht. Hanna beschloss, Frühstück für alle zu machen.
Kaum zog der Kaffeeduft durch die Wohnung, stand Nina, nur in T-Shirt und Unterhose, im Türrahmen.
„Morgen, Hanna, ich hoffe, ich war gestern nicht zu laut.“
Hanna fing den Becher, der ihre fast entglitt, gerade noch auf.
„Also dir braucht das nicht peinlich zu sein“, lachte Nina, „höchstens mir.“ Sie zuckte mit der Schulter. „Aber ich denke, wir sind beide erwachsen und jung genug, dass wir damit umgehen können. Oder stört es dich, dass ich mit Viktor schlafe?“
Hanna schüttelte den Kopf und versuchte, die Röte in ihrem Gesicht zu verbergen. Was ihr nicht gelang, dafür war Nina eine viel zu aufmerksame Beobachterin. „Hattet ihr beide mal was miteinander?“, hakte sie neugierig nach.
Konzentriert legte Hanna die Messer auf den Tisch, zupfte an der Tischdecke. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Es war an ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen. Marie hatte sie zu einer Party überredet. Die damit endete, dass ihre Schwester knutschend auf dem Schoß von Lukas saß. Sie waren sich gegenseitig an die Wäsche gegangen, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste im Raum. Es hatte sie angewidert und gleichzeitig erregt. Zum ersten Mal hatte sie sich gefragt, ob körperliche Lust etwas war, das eine Frau als angenehm empfinden konnte. Marie war es gewesen, von der die Aktivitäten ausgingen. Lukas akzeptierte das Spiel. Und die Grenzen, zumindest so lange, wie Gäste da gewesen waren.
Sie hätte Marie fragen können, aber das hätte das Gespräch unweigerlich in Richtung ihrer Entführung gebracht. Über diese Zeit hatte sie nur einmal gesprochen, und das war mit der Beamtin vom BKA gewesen, ein Gespräch, das zur Festnahme der Entführer führte. Es war einfach gewesen, mit der fremden Frau über die Vergewaltigungen zu reden. Vor ihr schämte sie sich nicht über ihre Schwäche und Unfähigkeit, sich zu wehren. Dass sie es am Ende einfach über sich hatte ergehen lassen. In der Gewissheit, dass es nur ihr Körper war und nicht sie, den die Männer benutzten, hatte sie ihre Seele verschlossen. Danach war das Verhältnis zu ihrem Körper aber so geblieben. Der Körper war etwas, das trainiert und bis an seine Grenzen gebracht werden konnte, sogar darüber hinaus. In gewisser Weise hatte ihr das wieder den Stolz auf ihren Körper zurückgebracht.
Die Zeit heilte die Wunden, die Narben aber blieben. Natürlich wollte sie wissen, wie es war, mit einem Mann zu schlafen, der ihr keine Gewalt antat. Auf eine obskure, verquere Art hatte sie das Gefühl gehabt, wenn sie diejenige war, die alles initiierte, würde es ihr die Kontrolle über ihr eigenes Leben wiedergeben. Aber das Geschehen musste sicher sein, absolut sicher. Der einzige Mann, der ihr eingefallen war, war Viktor gewesen. Viktor, ihr bester Freund, der wusste, was es bedeutete, wenn einem Gewalt angetan wurde. Viktor war nie vergewaltigt worden, aber missbraucht. Sein eigener Vater hatte Fotos von ihm gemacht und sich daran befriedigt. Als seine Mutter die Fotos fand, war Viktor in die Klinik nach Prien am Chiemsee gekommen. Seine Eltern ließen sich scheiden, nach einer Verurteilung hatte sein Vater nie wieder sein Leben gekreuzt.
Hanna vertraute Viktor. Also war sie zu ihm gegangen und hatte ihn gebeten, mit ihr zu schlafen. Er weigerte sich. Erst als sie drohte, sich dann jemand anderes für das Experiment zu suchen, hatte er widerstrebend eingewilligt. Sie waren ganz langsam und vorsichtig gewesen. Eigentlich war er ganz passiv geblieben, hatte sich völlig in ihre Hand begeben. Es war mit keinen Schmerzen verbunden, aber es war auch kein lustvolles Erlebnis gewesen.
Bei Marie dagegen schienen allein die Berührungen von Lukas etwas zu sein, das sie alles um sich herum vergessen ließ. Völlig versunken, losgelöst von der Welt, die sie umgab, so war ihr Marie vorgekommen. Genauso wollte sie sich verlieren, ihren Panzer hinter sich lassen. Einfach alles vergessen und nur sie selbst sein, ohne die Angst, verletzt zu werden. Er hatte ihr nicht wehgetan, aber sie hatte auch nichts empfunden. Sie war noch in der gleichen Nacht aufgestanden und nach Hause geschlichen.
Weder sie noch Viktor hatten jemals über diese Nacht geredet. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob das alles zwischen ihnen damals passiert
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