Hannas Wahrheit (German Edition)
eine Pause. Sie überlegte, wie sie Marie unverfänglich auf das Thema Stiftung, Dorf und Rukia Mutai manövrieren konnte. Sie musste mehr wissen. Sie musste herausfinden, weshalb man sie beschattete, abhörte und verfolgte. Und sie musste sicher sein, dass ihrer Mutter und Marie keine Gefahr drohte.
„Ich hoffe, Sie meinen damit nicht mich.“
Hanna zuckte bei der Stimme zusammen. Ihre Schwester starrte verblüfft den Mann an, der sich ohne weiter zu fragen an ihren Tisch setzte, genau zwischen sie beide. Mit einem Lächeln reichte er Marie die Hand.
„Ben Wahlstrom, Sie müssen Marie, die Schwester von Hanna, sein.“ Er ließ seinen Blick wohlwollend über sie schweifen.
Maries Neugierde sprühte aus jeder Pore. Sie setzte ihr verführerischstes Lächeln auf, klimperte mit ihren langen, dichten Wimpern, die aufgeklebt waren. Wohingegen Hanna Ben Wahlstrom böse anstarrte und sich im Stillen fragte, warum Gott sie mit dieser Plage belegt hatte.
„Verschwinde.“ Hanna nahm Ben Wahlstrom die Speisekarte aus der Hand, bevor er hineinsehen konnte. Er grinste sie an.
„Bist du sicher? Es war doch gestern ein sehr interessanter Abend, fandest du nicht?“
„Also Sie waren der Grund, weshalb mich meine Schwester fast versetzt hätte?“, gurrte Marie.
Hanna hätte Marie dafür ohrfeigen können. Ben Wahlstrom gehörte nicht zu den Männern, die Marie normalerweise wahrnahm. Seine ausgewaschenen Jeans, das T-Shirt ohne Markenlabel, seine Kapuzenjacke, die er lässig um seinen Bauch geknotet hatte, er strahlte weder Klasse noch Geld aus. Er war für Marie nur interessant wegen ihr. Sie sah es an der hochgezogenen Augenbraue ihrer Schwester, als sie sie kurz ansah. In ihrem Blick lag die unverhohlene Frage: „Was willst du mit dem?“
Dann wandte sich Marie jedoch wieder dem Mann an ihrem Tisch zu. Ihre Schwester zog ihr die Speisekarte aus der Hand und gab sie Ben Wahlstrom.
„Also, was haben Sie mit meiner Schwester gestern Abend gemacht, Ben? Ich darf Sie doch Ben nennen?“
„Klar, Marie, immerhin bist du die Schwester von Hanna.“
Er ließ seinen intensiven grauen Blick auf dem Gesicht von Marie ruhen. Seine Augen wurden schmal, er runzelte die Stirn. „Ich dachte, ihr wäret eineiige Zwillinge? Interessant.“ Seine Augen wanderten weiter.
Marie rutschte auf ihrem Stuhl unruhig hin und her. Hanna konnte sehen, dass Ben Wahlstrom ihre Schwester nervös machte. Vielleicht war Marie doch nicht so naiv, wie sie es immer dachte. Seine Aura strahlte eine Gefahr aus, die ihr eine Gänsehaut verursachte. Sie wusste genau, wie viele Muskeln sich unter dem T-Shirt und der Jeans verbargen. In ihren Kopf drängten sich die Bilder vom Verhör, unwillkürlich spannte sie dabei ihre Muskeln an. Ihre Hand umfasste das Besteckmesser, das vor ihr lag.
Marie hielt es nicht mehr aus. „Also, was ist mit gestern Abend?“
„Bist du immer so direkt, wenn es um das Leben von Hanna geht?“, stellte er eine Gegenfrage. Die nonverbale, weibliche Kommunikation oder besser das Anmachen seiner Person durch Marie prallte an ihm ab, stellte Hanna erstaunt fest. Marie lachte nervös. Sie war es nicht gewöhnt, dass ein Mann nicht auf ihr Flirten einging.
„Wir stehen uns nahe und teilen alles miteinander.“
„Wirklich alles?“ Er wandte sich Hanna zu, betrachtete ihre Hand, die auf dem Messer lag. Der Kellner kam und brachte eine Tomatensuppe, der erste Gang von ihrem Tagesgericht. Er bestellte sich ein Schnitzel und eine Cola. Hanna entschloss sich, Ben Wahlstrom schlicht und ergreifend zu ignorieren. Sollte sich ihre Schwester mit ihm rumplagen. Vielleicht würde sie auf diese Weise sogar erfahren, worum es Ben Wahlstrom ging.
„Nun ja, außer die Männer“, lachte Marie eine Spur heller als sonst.
Er legte seinen Kopf schief und ließ den Blick zwischen den Frauen hin und her wandern. Sie beide nebeneinander zu sehen, war faszinierend. Es war, als würde er in einen Spiegel sehen, und auch nicht. Die äußeren Merkmale erschienen nur im ersten Moment gleich. Auf dem Passbild waren sie sich verblüffend ähnlich gewesen. Doch wenn man beide Frauen vor sich hatte, waren sie anders. Marie war völlig von sich selbst und ihrer Wirkung auf Männer überzeugt. Er war ihr einige Male gefolgt und hatte miterlebt, wie sie mit Männern umging. Es gab immer eine Zielsetzung in ihrer Handlung. Aufmerksamkeit und Nettigkeiten verteilte sie nur, wenn sie davon profitierte. Er war sich sicher, dass sie ihre
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