Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
der Männer ein paar verschrumpelte Knollen und den Kopf des kleinen Rehbocks kocht. Das brodelnde Wasser stößt das Geweih scheppernd gegen die Wände der Wanne, als ob der kleine Rehbock einen letzten Versuch unternähme, zu entkommen.
Blauauge und Schwimmhaut kommen mit einem Schwall kalter Luft zur Tür herein, ziehen ihre Schneeschuhe aus und stellen sie an die Wand. Die anderen scharen sich um sie, Schüssellecker kommt auf erfrorenen Füßen aus der Ecke gehumpelt. Blauauge holt die ausgehungerten Körper dreier kleiner Vögel aus seiner Tasche. Er wirft einen Vogel mitsamt den Federn ins Wasser, bis er weich genug ist, um ihm die Haut abzuziehen. Er nagt den blutigen Vogelbalg ab, hat Blut und Federn im Gesicht. Die Männer drängen sich um ihn. Er wirft ihnen den Balg hin, und sie stürzen sich darauf wie Hunde.
Blauauge wendet sein blutverschmiertes Gesicht zur Galerie, spuckt eine Feder aus und sagt: »Wir müssen entweder essen oder sterben.«
Sie werfen das Familienalbum der Leders und Mischas Papierspielsachen, ihre Burg und die Papierpuppen, ins Feuer. Jetzt steht Hannibal am Herd, ganz plötzlich, es hat keinen Sinn, herunterzukommen, und dann sind sie in der Scheune, wo lauter Kleidungsstücke im Stroh liegen, Kinderkleider, von denen er nicht weiß, wem sie gehören, und die steif und starr sind von Blut.
Die Männer, die dicht gedrängt um sie herumstehen, befühlen sein Fleisch und das Mischas.
»Nehmt das Mädchen, sie stirbt sowieso. Komm spielen, komm spielen ...«
Jetzt haben sie zu singen begonnen und nehmen Mischa mit.
Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm,
Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um ...
Hannibal klammert sich an Mischas Arm, die Kinder werden zum Scheunentor geschleppt. Er lässt seine Schwester nicht los. Blauauge drischt das schwere Tor auf seinen Arm, dass der Knochen bricht, dann stürzt er sich, ein Holzscheit schwingend, auf Hannibal, trifft ihn am Kopf, fürchterliche Schläge hageln auf ihn nieder, Lichtblitze hinter seinen Augen, heftige Hiebe, Mischa, die Anniba!« ruft ...
Und die Schläge wurden zum Hämmern des Oberaufsehers, der mit seinem Knüppel gegen das Bettgestell drosch, während Hannibal im Schlaf immer weiter »Mischa! Mischa!« schrie.
»Halt endlich die Klappe und steh auf, du kleiner Pisser!«
Oberaufseher Petrow riss die Decke von Hannibals Bett und schleuderte sie nach ihm. Draußen auf dem kalten Boden zum Geräteschuppen wurde Hannibal mit dem Knüppel angetrieben. Der Mann versetzte ihm einen so festen Stoß, dass er fast gegen die Wand des Schuppens flog, dann folgte er ihm selbst nach drinnen.
An den Wänden des Schuppens hingen Gartengeräte, Seile, allerhand Werkzeug. Oberaufseher Petrow stellte die Laterne auf einem Fass ab und hob den Knüppel. Dann hielt er seine verbundene Hand hoch.
»Das wirst du mir jetzt büßen.«
Hannibal wich zurück, entfernte sich immer weiter vom Licht. In seinem Innern breiteten sich Gefühle aus, die er nicht benennen konnte. Der Oberaufseher las Angst in seinem Gesicht und folgte ihm, immer weiter fortgelockt vom Licht. Dann schlug Petrow zu, erwischte ihn mit voller Wucht am Oberschenkel. Der Junge tauchte unter seinen Armen hindurch, rannte zur Laterne, nahm eine Sichel von der Wand und blies das Licht aus.
Anschließend legte er sich im Dunkeln auf den Boden, hielt die Sichel mit beiden Händen über seinen Kopf, hörte tastende Schritte auf sich zukommen, schwang die Sichel mit aller Kraft durch die schwarze Luft, aber traf nichts und hörte gleich darauf nur, wie die Tür zuging und eine Kette rasselte.
»Das Gute, wenn du einen Stummen verprügelst, ist, dass er dich nicht verpetzen kann«, sagte Oberaufseher Petrow.
Zusammen mit dem zweiten Aufseher betrachtete er einen Delahaye, der auf dem gekiesten Burghof stand, ein schönes Beispiel französischer Karosseriebaukunst, himmelblau, mit Diplomatenwimpeln der Sowjetunion und der DDR auf den vorderen Kotflügeln. Der Wagen hatte etwas von der typischen Exotik französischer Vorkriegsautos und wirkte in Augen, die an eckige Panzer und Geländewagen gewöhnt waren, sehr sinnlich. Der Oberaufseher hätte mit seinem Messer gern »Scheiße« in die Seite des Autos gekratzt, aber der Chauffeur wirkte kräftig und war wachsam.
Hannibal war gerade im Stall, als der Wagen in den Burghof fuhr und neben dem Rabenstein hielt. Er lief nicht zu seinem Onkel hinaus, beobachtete nur, wie dieser mit einem sowjetischen Offizier in das
Weitere Kostenlose Bücher