Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
der Leuchter ein Stück nach. Auf Hannibal rieselte Staub herab, und von den Weinregalen an der Rückwand kam ein lautes Ächzen. Er kletterte vom Tisch, zwängte die Finger in den Spalt und zog.
Unter dem durchdringenden Quietschen der Angeln schwang das Regal von der Wand fort. Hannibal holte die Laterne und leuchtete vorsichtig in das Dunkel hinter der Geheimtür. Er konnte nichts erkennen. Hier, in diesem Raum hatte er den Koch zum letzten Mal gesehen, und einen Moment lang hatte er sein großes, rundes Gesicht deutlich vor Augen, ohne den Schleier, den die Zeit sonst über unsere Erinnerungen breitet.
Die Laterne schräg vor sich haltend, betrat Hannibal die geheime Kammer hinter dem Weinkeller.
Sie war leer.
Nur ein großer vergoldeter Bilderrahmen, aus dem das Gemälde herausgeschnitten war, hing mit Leinwandresten noch an der Wand. Es war das größte Bild im Haus gewesen, eine idealisierende Darstellung der Schlacht von Žalgiris und des heldenhaften Einsatzes Hannibals des Schrecklichen.
Hannibal Lecter, sein Nachfahre, stand in der geplünderten Burg seiner Kindheit und wurde sich beim Anblick des leeren Bilderrahmens dessen bewusst, dass er einerseits ein Vertreter seines Geschlechts war, andererseits aber auch nicht. Seine Erinnerungen kreisten um seine Mutter, eine Sforza, um den Koch und seinen Hauslehrer Herrn Jakov, die aus anderen Verhältnissen kamen als er. Im leeren Bilderrahmen sah er sie alle um das Feuer im Kamin des Jagdhauses versammelt. -
Er selbst betrachtete sich in keiner Weise als Hannibal den Schrecklichen. Er würde sein Leben unter der bemalten Decke seiner Kindheit führen. Aber sie war so dünn wie der Himmel und fast genauso nutzlos. Das glaubte er zumindest.
Sie waren alle verschwunden, die Gemälde mit den Gesichtern, die ihm ebenso vertraut gewesen waren wie seine Familie.
In der Mitte der Kammer befand sich ein Kerkerloch, ein steinernes Verlies, in das Hannibal der Schreckliche seine Feinde hatte werfen lassen, um nie mehr an sie denken zu müssen. Damit niemand aus Versehen hineinfiel, war das Loch später mit einem Geländer umgeben worden. Hannibal hielt seine Laterne darüber. Das Licht reichte jedoch nicht bis auf den Grund des Verlieses. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, in seiner Kindheit habe auf dem Boden des dunklen Lochs noch ein Haufen Skelette gelegen.
Einmal war Hannibal, nach langem Bitten, in einem Korb in das Verlies hinabgelassen worden. Und bei dieser Gelegenheit hatte er entdeckt, dass dort unten ein einziges Wort in die Wand geritzt war. Er konnte es zwar jetzt im schwachen Schein der Laterne nicht sehen, aber er wusste, dass es da war. Ein paar ungelenke Buchstaben, im Dunkeln von einem Sterbenden in den Stein geritzt – nur das eine Wort: Pourquoi?
12
Über dem langen Schlafsaal lag tiefe Stille. Die Waisen schliefen in ihren Betten. Der Teil, in dem die Jüngsten untergebracht waren, war vom Muffgeruch eines Kindergartens durchdrungen. Die Kleinsten umklammerten im Schlaf sich selbst. Einige riefen nach den Toten aus ihren Erinnerungen, in deren geträumten Gesichtern sie eine Fürsorge und Zärtlichkeit sahen, die sie nie mehr finden würden. Weiter hinten masturbierten einige der älteren Jungen unter ihren Decken.
Jedes Kind hatte einen Spind, und an der Wand über jedem Bett befand sich eine Fläche, wo man Zeichnungen oder, in seltenen Fällen, ein Familienfoto anbringen durfte. Häufig hingen dort unbeholfene Wachsmalkreidebilder.
Über Hannibal Lecters Bett befand sich die hervorragende Bleistiftzeichnung eines Kinderarms, fesselnd und anrührend in der Unschuld seiner Geste, der zarte Arm perspektivisch verkürzt, die Hand halb tastend, halb zupackend ausgestreckt. Das Handgelenk wurde von einem Armreif umfasst.
Unter der Zeichnung schlief mit zuckenden Augenlidern Hannibal. Seine Kiefermuskeln waren angespannt, die Nasenflügel weiteten sich, um sich jedoch gleich wieder zusammenzuziehen, als sie im Traum einen Hauch fauligen Männeratem rochen.
Das Jagdhaus im Wald. Hannibal und Mischa im kalten Staubgeruch des Teppichs, in den sie sich eingerollt haben. Die Fensterscheiben dick vereist, das Licht grün und rot gebrochen. Ein heftiger Windstoß hat zur Folge, dass der Schornstein einen Augenblick lang nicht zieht. Unter dem Satteldach und auf der Galerie hängen blaue Rauchschwaden. Hannibal hört die Eingangstür auffliegen und späht durch das Geländer nach unten.
Auf dem Herd steht Mischas Badewanne, in der einer
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