Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Male versucht, Suzumushi-Grillen für Lady Murasaki kommen zu lassen, aber keines der Tiere hatte die lange Reise überlebt. Er hatte ihr nie etwas davon erzählt.
An stillen Abenden, wenn es geregnet hatte und die Luft besonders feucht war, spielten sie das Gerucherkennungsspiel. Auf einem Glimmerspan verbrannte Hannibal alle möglichen Rindenstücke oder Inzense, und Chiyoh musste erraten, was es war. Bei diesen Anlässen spielte Lady Murasaki die Koto, damit Chiyoh sich auf die Gerüche konzentrieren konnte, und manchmal gab sie ihr aus einem Repertoire, das Hannibal nicht kannte, Hinweise in musikalischer Form.
Zur Überprüfung seines Schulwissens wurde Hannibal in regelmäßigen Abständen in die Dorfschule geschickt, wo er aufgrund der Tatsache, dass er nicht sprechen konnte, für einiges Aufsehen sorgte. An seinem zweiten Tag in der Schule spuckte ein Kerl aus einer oberen Klasse einem kleinen Schulanfänger auf den Kopf, worauf Hannibal dem Spucker Steißbein und Nase brach. Er wurde nach Hause geschickt und verzog keine Miene.
Dafür nahm er zu Hause an Chiyohs Unterricht teil. Chiyoh war schon vor Jahren mit dem Sohn einer japanischen Diplomatenfamilie verlobt worden, und jetzt, mit dreizehn, lernte sie von Lady Murasaki alle Fertigkeiten, die sie für ihr Dasein als junge Ehefrau benötigen würde.
Der Unterricht war ganz anders als der von Herrn Jakov, doch die Fächer, in denen Chiyoh unterrichtet wurde, hatten wie Herrn Jakovs Mathematik eine ganz eigene Schönheit, und Hannibal fand sie hochinteressant.
Im guten Licht der Fenster ihres Salons stehend, unterrichtete Lady Murasaki auch ihn in der Kunst der Kalligrafie. Sie malte auf den Seiten der Tageszeitung und konnte selbst mit einem großen Pinsel erstaunlich subtile Effekte erzielen. Hier war das Zeichen für Ewigkeit, eine ansprechende Dreiecksform. Unter dem schönen Schriftzeichen war noch die Schlagzeile der Zeitung zu erkennen: »KZ-Ärzte in Nürnberg verurteilt ...«
»Diese Übung heißt ›Ewigkeit in acht Pinselstrichen‹«, sagte sie. »Versuch es auch einmal.«
Am Ende des Unterrichts falteten Lady Murasaki und Chiyoh Origami-Kraniche, die sie später immer auf den Altar im Dachboden stellten. Auch Hannibal nahm ein Blatt Origami-Papier, um einen Kranich zu falten. Der fragende Blick, mit dem Chiyoh Lady Murasaki ansah, hatte zur Folge, dass er sich kurz wie ein Außenseiter fühlte. Lady Murasaki reichte ihm eine Schere. (Später rügte sie Chiyoh wegen ihres Lapsus, der in Diplomatenkreisen auf keinen Fall geduldet würde.)
»Chiyoh hat in Hiroshima eine Cousine«, erklärte ihm Lady Murasaki, »Sie heißt Sadako und ist so stark radioaktiv verstrahlt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Aber Sadako glaubt, dass sie überleben wird, wenn sie tausend Papierkraniche faltet. Sie ist schon sehr schwach, deshalb helfen wir ihr jeden Tag dabei. Ob die Kraniche tatsächlich eine heilende Wirkung haben, spielt keine Rolle. Wir sind in Gedanken bei ihr, wenn wir sie falten, und denken auch an alle anderen, die durch den Krieg verseucht wurden. Du würdest auch für uns Kraniche machen, Hannibal, und wir würden sie für dich machen. Lasst uns also alle drei Kraniche für Sadako falten.«
19
Donnerstags wurde auf dem Dorfplatz um den Brunnen und die Statue von Marschall Foch unter großen bunten Sonnenschirmen immer ein Markt abgehalten. Der Stand mit dem eingelegten Gemüse verbreitete dabei einen Hauch von säuerlichem Essig, und die Fische und Muscheln auf ihren Algenbetten verströmten den Geruch des Meeres.
Ein paar Radiogeräte spielten rivalisierende Melodien. Der Leierkastenmann mit seinem Affen, nach dem Frühstück gerade wieder einmal aus dem Gefängnis entlassen, kurbelte gnadenlos »Sous les Ponts de Paris« herunter, bis jemand ihm ein Glas Wein und seinem behaarten Assistenten etwas Erdnusskrokant spendierte. Der Leierkastenmann leerte das Glas in einem Zug und konfiszierte die Hälfte des Erdnusskrokants für sich selbst, aber der Affe mit seinen klugen kleinen Augen merkte sich genau, in welche Tasche sein Herr die Süßigkeit steckte. Zwei Gendarmen erteilten dem Musiker die üblichen nutzlosen Ermahnungen und wanderten zum Bäckereistand weiter.
Lady Murasaki war zu Legumes Bulot , dem besten Gemüsestand, unterwegs, um Straußenfarn zu kaufen. Straußenfarn gehörte zu den Lieblingsgerichten des Grafen und war normalerweise schnell ausverkauft.
Hannibal, der Lady Murasakis Einkaufskorb trug, trödelte
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