Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Kriminelle wartete, während sich Inspektor Popil und der Mann, der den Polygrafen bediente, draußen auf dem Gang berieten.
Popil zog das Papier von der Rolle. »Fehlanzeige.« Ein ungläubiges Kopfschütteln.
»Der Junge reagiert auf nichts«, sagte der Spezialist. »Entweder ist er eine total abgestumpfte Kriegswaise, oder er verfügt über ungeheure Selbstbeherrschung.«
»Ungeheuer«, sagte Popil.
»Möchten Sie, dass zuerst ich den Einbrecher verhöre?«
»Er interessiert mich nicht, aber ich möchte, dass Sie ihn sich vorknöpfen. Und es kann sein, dass ich ihn im Beisein des Jungen ein paar Mal schlage. Können Sie mir folgen?«
Auf dem abschüssigen Straßenstück, das ins Dorf führte, rollte lautlos ein Motorrad mit ausgeschaltetem Licht und Motor. Der Fahrer trug eine schwarze Ledermontur und eine schwarze Wollmütze. Lautlos bog das Motorrad um eine Ecke des verlassenen Dorfplatzes, verschwand kurz hinter einem Postauto, das vor dem Postamt stand, und rollte weiter. Der Fahrer musste sich inzwischen immer wieder mit beiden Beinen abstoßen, um noch voranzukommen. Er ließ den Motor erst wieder an, als die Straße am Ende des Dorfs bergauf zu führen begann.
Inspektor Popil und Hannibal saßen im Büro des Commandant des Gendarmes. Popil las das Etikett auf einem Fläschchen, in dem sich das Magenmittel des Commandant befand, und überlegte, ob er einen Schluck davon nehmen sollte.
Dann legte er die Papierrolle aus dem Lügendetektor auf den Schreibtisch und stieß mit dem Finger dagegen. Auf dem sich abrollenden Papier wurden schwach gezackte Linien sichtbar. Die Spitzen erschienen dem Inspektor wie die Ausläufer eines wolkenverhangenen Gebirges.
»Hast du den Metzger umgebracht, Hannibal?«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Ja.«
»Sie sind extra den langen Weg von Paris hierhergekommen. Sind Sie auf den Tod von Metzgern spezialisiert?«
»Meine Spezialität sind Kriegsverbrechen, und Paul Momund wurde mehrerer verdächtigt. Kriegsverbrechen sind nicht mit dem Krieg beendet, Hannibal.« Popil hielt inne, um die Werbung auf einem Aschenbecher zu studieren. »Vielleicht verstehe ich deine Lage besser, als du denkst.«
»Wie ist meine Lage, Monsieur l’Inspecteur?«
»Du hast im Krieg deine Eltern verloren. Du hast im Heim gelebt, ganz in dich zurückgezogen, ohne einen Menschen auf der Welt, der dir nahestand. Aber nach dieser langen schweren Zeit hat deine schöne Stiefmutter das alles wieder wettgemacht.« In dem Bemühen, eine Beziehung zu dem Jungen aufzubauen, legte der Inspektor Hannibal eine Hand auf die Schulter. »Schon allein ihr Duft löscht den Geruch der Anstalt aus. Und dann bespeit sie dieser Rüpel von Metzger mit Schmutz. Ich könnte es verstehen, wenn du ihn umgebracht hättest. Du kannst es mir ruhig erzählen. Gemeinsam könnten wir vor einen Untersuchungsrichter treten und ihm erklären ...«
Hannibal wich auf seinem Stuhl zurück und entzog sich Popils Berührung. »›Schon allein ihr Duft löscht den Geruch der Anstalt aus‹. Darf ich fragen, ob Sie Gedichte schreiben, Monsieur l’Inspecteur?«
»Hast du den Metzger umgebracht?«
»Paul Momund hat sich selbst umgebracht. Er starb an Dummheit und Ungezogenheit.«
Inspektor Popil hatte einige Erfahrung mit den finsteren Seiten der menschlichen Seele, und jetzt hatte er die Stimme gehört, auf die er gewartet hatte. Sie hatte ein geringfügig anderes Timbre als sonst, und es war erstaunlich, sie aus dem Körper eines Knaben zu vernehmen.
Diesen speziellen Ton hatte er hier bisher nicht zu hören bekommen, aber er erkannte das andere darin. Es war einige Zeit her, dass er den Kitzel der Jagd verspürt hatte, die greifbare Beschaffenheit des gegnerischen Verstands. Er spürte ihn auf der Kopfhaut und auf den Unterarmen. Nur dafür lebte er.
Ein Teil von ihm wünschte sich, der Einbrecher draußen auf dem Flur hätte den Metzger umgebracht. Ein Teil von ihm führte sich vor Augen, wie einsam Lady Murasaki möglicherweise wäre, wie sehr vom Wunsch nach Gesellschaft beseelt, wenn der Junge in einer Anstalt untergebracht würde.
»Der Metzger war angeln. Er hatte Blut und Fischschuppen an seinem Messer, aber er hatte keinen Fisch. Der Koch des Grafen hat mir erzählt, du hättest an diesem Tag einen köstlichen Fisch zum Essen nach Hause gebracht. Woher hattest du ihn?«
»Ich habe ihn geangelt, Monsieur l’Inspecteur. Wir haben hinter dem Bootshaus immer eine Schnur mit einem Köder im Wasser hängen.
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