Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Wenn Sie möchten, zeige ich sie Ihnen. Monsieur l’Inspecteur, haben Sie sich aus freien Stücken für Kriegsverbrechen entschieden?«
»Ja.«
»Weil Sie im Krieg Ihre Familie verloren haben?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, wie?«
»Einige sind gefallen. Andere wurden in den Osten deportiert.«
»Haben Sie diejenigen gefasst, die Ihre Verwandten deportieren ließen?«, wollte Hannibal wissen.
»Nein.«
»Aber es waren Anhänger der Vichy-Regierung – Männer wie der Metzger?«
»Ja.«
»Können wir ganz ehrlich miteinander reden?«
»Unbedingt«, sagte Popil.
»Tut es Ihnen leid, dass Paul Momund tot ist?«
Auf der anderen Seite des Dorfplatzes kam Monsieur Rubin, der Barbier, mit seinem Terrier auf ihrer nächtlichen Runde zu einer von Bäumen gesäumten Seitenstraße. Nachdem er in seinem Friseursalon schon den ganzen Tag mit den Kunden geplaudert hatte, redete Monsieur Rubin nun mit dem Hund weiter. Er zog den Terrier von dem Gras streifen vor dem Postamt fort.
»Du hättest dein Geschäft auf Felipes Rasen verrichten sollen, als niemand hingesehen hat«, sagte er. »Hier müssen wir unter Umständen Strafe zahlen. Du hast aber kein Geld. Also müsste ich für dich zahlen ...«
Vor dem Postamt stand ein Pfosten, an dem ein Briefkasten befestigt war. Obwohl Monsieur Rubin mit aller Kraft an der Leine zog, steuerte der Hund darauf zu und hob sein Bein.
Als er ein Gesicht über dem Briefkasten entdeckte, sagte Rubin: »Guten Abend, Monsieur!«, und zu seinem Hund: »Pass auf, dass du Monsieur nicht vollmachst!«
Der Hund winselte, und Rubin stellte fest, dass auf der anderen Seite unter dem Briefkasten keine Beine standen.
Das Motorrad jagte über die schmale Kopfsteinpflasterstraße und fuhr fast dem Licht seines eigenen schwachen Scheinwerfers davon. Als ihm einmal ein Auto entgegenkam, ging der Motorradfahrer unter den Bäumen am Straßenrand in Deckung, bis die Rücklichter des Wagens nicht mehr zu sehen waren.
Im dunklen Schuppen des Château s wurde der Scheinwerfer des Motorrads abgedreht, während der sich abkühlende Motor leise weitertickte. Lady Murasaki nahm die schwarze Wollmütze ab und band, ohne in der tiefen Dunkelheit etwas sehen zu können, ihr Haar hoch.
Von allen Seiten richteten sich die Lichtkegel von Polizeitaschenlampen auf den Kopf des Metzgers Momund auf dem Briefkasten. Unmittelbar unter seinem Haaransatz hatte jemand »Boche« – ›Deutscher‹ – auf die Stirn geschrieben. Späte Trinker und Nachtarbeiter hatten sich um den Kopf versammelt, um ihn sich anzusehen.
Inspektor Popil führte Hannibal ganz dicht heran und beobachtete den Jungen in dem vom Gesicht des Toten zurückgeworfenen Licht aufmerksam. Er konnte keine Veränderung in seiner Miene erkennen.
»Jetzt hat die Résistance Momund doch noch erwischt«, sagte der Barbier und erzählte jedem, wie er ihn gefunden hatte. Den Verstoß des Hundes ließ er dabei wohlweislich unerwähnt.
Einige in der Menge der Schaulustigen fanden, es sollte dem Jungen erspart werden, den Kopf ansehen zu müssen. Eine ältere Frau, eine Nachtschwester auf dem Nachhauseweg, äußerte es laut.
Popil ließ Hannibal in einem Polizeiwagen nach Hause bringen. Der Junge traf im rosigen Schein der Morgendämmerung im Château ein und schnitt ein paar Blumen, die er in seiner Faust in der richtigen Höhe anordnete, bevor er ins Haus ging.
Das Gedicht, das er ihnen beifügen wollte, war ihm eingefallen, als er die Stiele in der entsprechenden Länge abschnitt. Im Atelier fand er Lady Murasakis Pinsel – er war noch feucht – und schrieb damit auf ein Stück Papier:
Der nächtliche Reiher,
Vom aufgehenden Erntemond enthüllt -
Welcher von beiden ist liebreizender?
Hannibal fiel es nicht schwer, während des Tages zu schlafen. Er träumte von Mischa in dem Sommer vor Ausbruch des Krieges. Nana hatte die Kinderbadewanne in den Gemüsegarten des Jagdhauses gestellt, um das Wasser von der Sonne wärmen zu lassen, und die Kohlweißlinge umflatterten Mischa, die planschend in der Wanne saß. Hannibal schnitt eine Aubergine für sie ab, und sie umschloss die dunkelviolette, von der Sonne gewärmte Frucht entzückt mit ihren Händen.
Als er aufwachte, hatte jemand einen Zettel mit einer Glyzinienblüte unter der Tür durchgeschoben. Auf dem Zettel stand: »Von Fröschen bedrängt, würde man sich für den Reiher entscheiden.«
26
Chiyoh bereitete sich auf ihre bevorstehende Abreise nach Japan vor, indem sie Hannibal
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