Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Kopf des Versuchsobjekts begab sich Hannibal ins Zentrum seines Geistes und in die Eingangshalle seines Gedächtnispalastes. Für die Musik in den Gängen wählte er ein Streichquartett von Bach und durchquerte rasch den Saal der Mathematik und den Saal der Chemie, bis er einen Raum betrat, den er vor Kurzem vom Carnavalet-Museum übernommen und in den ›Saal des Kraniums‹ umbenannt hatte. Es dauerte nur wenige Minuten, alles zu speichern, indem er anatomische Details mit der festen Anordnung der Präparate im Carnavalet in Zusammenhang brachte und sorgsam darauf achtete, die venösen Blaus des Gesichts nicht vor den blauen Flächen in den Tapisserien zu platzieren.
Als er im Saal des Kraniums fertig war, legte er im Saal der Mathematik, der ganz am Eingang lag, eine kurze Pause ein. Er wollte sich das Gefühl gönnen, das er an seinem siebten Geburtstag empfunden hatte, als er den nicht mathematischen Beweis des Satzes von Pythagoras verstand, den Herr Jakov ihm gezeigt hatte. Im Saal der Mathematik waren alle Unterrichtsstunden Herrn Jakovs in der Burg gespeichert, aber keins ihrer Gespräche im Jagdhaus.
Alles, was in Zusammenhang mit dem Jagdhaus stand, befand sich außerhalb des Gedächtnispalastes, zwar noch auf den dazugehörigen Ländereien, aber in den dunklen Schuppen seiner Träume, schwarz verkohlt, und wenn er dorthin wollte, musste er nach draußen gehen. Dann musste er über den Schnee gehen, auf dem die aus Herrn Jakovs Buch herausgerissenen Seiten von Huyghens’ Abhandlung über das Licht Hirn und Blut umflatterten.
In den Gängen des Palastes konnte er selbst bestimmen, ob dort Musik gespielt wurde oder nicht, aber in den Schuppen hatte er keinen Einfluss auf den Ton, und es gab dort einen ganz speziellen Ton, der ihn töten konnte.
Hannibal verließ den Gedächtnispalast und kehrte in seinen Geist zurück, zu der Stelle hinter seinen Augen und in seinen achtzehn Jahre alten Körper, der, eine Hand auf einem menschlichen Hirn, an einem Tisch in der Anatomie saß.
Er zeichnete noch eine Stunde lang. Als die Zeichnung fertig war, gaben die Adern und Nerven der sezierten Gesichtshälfte auf dem Bild genau die reale Vorlage auf dem Tisch wieder. Die unangetastete Gesichtshälfte glich der Vorlage dagegen überhaupt nicht. Es war ein Gesicht aus den Schuppen. Es war das Gesicht von Vladis Grutas, an den Hannibal nur als Blauauge dachte.
Fünf Stockwerke die schmale Treppe hinauf, zu seinem Zimmer über dem medizinischen Institut, und dann schlafen.
Die Decke der Mansarde senkte sich nach unten, und die niedrigere Zimmerhälfte war ordentlich, harmonisch, japanisch, mit einem niedrigen Bett. Sein Schreibtisch war in der hohen Hälfte des Zimmers. An den Wänden um seinen Schreibtisch herum herrschte ein wildes Durcheinander aus Bildern, Zeichnungen von Sektionen und in Arbeit befindlichen anatomischen Illustrationen. Organe und Gefäße waren in jedem einzelnen Fall absolut wirklichkeitsgetreu wiedergegeben, doch die Gesichter der Sezierten waren Gesichter, die er in Träumen sah. Über alldem blickte von einem Bord ein Gibbonschädel mit langen Reißzähnen herab.
Den Formalingeruch konnte Hannibal abwaschen, und der Chemikaliengeruch der Anatomie drang in dem zugigen alten Gebäude nicht so weit nach oben. Die grausigen Bilder der Toten und halb Sezierten nahm er nicht in seinen Schlaf mit hinüber, auch nicht die der geköpften oder gehängten Schwerverbrecher, die er manchmal aus den Gefängnissen abholte. Es gab nur ein Bild, ein Geräusch, das ihn aus dem Schlaf reißen konnte. Und er konnte nie vorhersehen, wann es kam.
Monduntergang. Von den welligen, von winzigen Blasen durchzogenen Fensterscheiben zerstreut, breitet sich das Mondlicht über Hannibals Gesicht und kriecht lautlos die Wand hinauf. Es berührt Mischas Hand auf der Zeichnung über seinem Bett, gleitet über die Teilgesichter auf den anatomischen Studien, schlüpft über die Gesichter aus seinen Träumen und erreicht schließlich den Gibbonschädel, wo es zuerst weiß auf den großen Reißzähnen aufleuchtet, bevor es zu den Brauen über den tiefen Augenhöhlen kommt. Aus dem Dunkel im Innern seines Schädels beobachtet der Gibbon Hannibal im Schlaf. Hannibals Gesicht ist wie das eines Kindes. Er gibt einen Laut von sich und dreht sich auf die Seite, entzieht seinen Arm einem unsichtbaren Zugriff.
Er steht mit Mischa in der Scheune hinter dem Jagdhaus, drückt sie fest an sich. Mischa hustet. Schüssellecker befühlt
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