Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
praktizieren. Dumas war ein genialer, zerstreuter Mann, dem das Augen leuchten eines Chirurgen fehlte. Er verlangte von jedem seiner Studenten, dem anonymen Leichnam, den er sezieren würde, einen Brief zu schreiben, in dem er dem jeweiligen Spender für das Vorrecht dankte, seinen oder ihren Körper studieren zu dürfen, und ihm versicherte, ihn mit Respekt zu behandeln und alle Körperteile, die nicht der unmittelbaren Untersuchung unterzogen wären, ständig bedeckt zu halten.
Für die Vorlesung am nächsten Tag sollte Hannibal zwei Leichen vorbereiten, eine Öffnung des Brustkorbs, bei der das Pericardium intakt freigelegt wäre, und eine differenzierte Schädelsektion.
Nacht in der Anatomie. In dem großen Raum mit den hohen Fenstern und dem mächtigen Ventilator war es so kühl, dass die zugedeckten, mit Formalin konservierten Leichen über Nacht auf den zwanzig Tischen liegen bleiben konnten. Im Sommer wurden sie am Ende eines jeden Arbeitstages in den Leichentank zurückgebracht. Bedauernswerte kleine Körper unter den Tüchern, die Toten, die niemand haben wollte, die Hungerleider, zusammengekauert in Hinterhöfen gefunden, sich im Tod noch selbst umarmend, bis die Totenstarre vorüberging und sie, zusammen mit ihren Leidensgefährten, im Formalinbad des Leichentanks endlich loslassen konnten. Zerbrechlich und vogelartig, waren sie geschrumpft wie die erfrorenen und in den Schnee gefallenen Vögel, die hungrige Menschen mit den Zähnen häuten.
Angesichts vierzig Millionen Toter während des Krieges erschien es Hannibal eigenartig, dass die Medizinstudenten für ihre anatomischen Studien Leichen verwenden mussten, die lange in Tanks konserviert worden waren, wo das Formalin den letzten Rest Farbe aus ihren Körpern saugte.
Hin und wieder hatte das anatomische Institut das Glück, die Leiche eines Schwerverbrechers zu erhalten, vom Galgen oder von einem Erschießungskommando im Fort von Montrouge oder Fresnes oder von der Guillotine in La Santé. Angesichts der bevorstehenden Schädelsektion freute sich Hannibal, den Kopf eines Santé-Absolventen zur Verfügung 2U haben, der ihn jetzt aus dem Waschbecken ansah, das Gesicht mit Blut und Stroh verschmiert.
Da die Autopsiesäge des Instituts auf einen neuen Motor wartete, der schon vor Monaten bestellt worden war, hatte Hannibal einen amerikanischen Elektrobohrer dahingehend umgebaut, dass er am Bohrfutter ein kleines Kreissägeblatt angebracht hatte, das er zum Sezieren verwenden konnte. Das Gerät hatte einen Spannungsumwandler von der Größe eines Brotkastens, dessen Summen fast genauso laut war wie das Geräusch der Säge.
Hannibal war gerade mit dem Öffnen des Brustkorbs fertig geworden, als wieder einmal, wie das häufig der Fall war, der Strom ausfiel und alle Lichter ausgingen. Daraufhin arbeitete er im Schein einer Kerosinlampe am Waschbecken weiter, spülte das Blut und das Stroh vom Gesicht des Guillotinierten und wartete darauf, dass der Strom zurückkam.
Als die Lichter wieder angingen, verlor er keine Zeit, die Kopfhaut zurückzuklappen und entlang der Kranznaht die Schädeldecke zu entfernen, um das Hirn freizulegen. Er injizierte gefärbtes Gel in die großen Blutgefäße und achtete dabei darauf, die das Hirn bedeckende äußere Hirnhaut so wenig wie möglich zu perforieren. Das erschwerte die Sache, aber der Professor mit seinem Hang zur Theatralik wollte die Dura Mater vor den Studenten immer selbst entfernen, gewissermaßen den Vorhang vom Hirn reißen, weshalb sie Hannibal, soweit dies möglich war, nicht zu verletzen versuchte.
Er legte seine behandschuhte Hand leicht auf das Hirn. Besessen von der Erinnerung und den weißen Flecken in seinem eigenen Gedächtnis, wünschte er sich, mittels bloßer Berührung die Träume eines Toten lesen, mittels bloßer Willenskraft seine eigenen erforschen zu können.
Nachts war die Anatomie ein guter Ort, um nachzudenken, die Stille nur durchbrochen vom Klirren des Sezierbestecks und, in seltenen Fällen, dem Stöhnen eines Toten im Anfangsstadium der Sektion, wenn die Organe noch etwas Luft enthielten.
Hannibal führte eine penible Teilsektion der linken Gesichtshälfte durch, dann zeichnete er für die anatomischen Illustrationen, die Teil seines Studiums waren, den Kopf, und zwar sowohl die sezierte Hälfte als auch die unangetastete.
Jetzt wollte er in seinem Gedächtnis den muskulären, neuralen und venösen Aufbau des Gesichts dauerhaft speichern. Mit der behandschuhten Hand auf dem
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