Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
zurück. Er setzte den Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter und brummte: »Scheiß auf den Hof!« Das war sein Wahlspruch, seit er mit zwölf vom Bauernhof seiner Eltern ausgerissen war.
Hannibal wurde mit den blauen Veneninjektionen fertig und hielt anschließend sein Werk mit Buntstiften auf einem Zeichenbrett fest, allerdings nicht, ohne ab und zu die in einem großen Glasgefäß mit Alkohol konservierte Lunge zurate zu ziehen. Ein leichter Luftzug fuhr in die an seiner Zeichenunterlage festgeklemmten Papierbogen und brachte sie zum Flattern, aber sie sanken gleich wieder auf das Brett zurück und bewegten sich nicht mehr. Hannibal blickte von seiner Arbeit auf, schaute in die Richtung, aus der der Luftzug gekommen war, den Flur hinunter, und kolorierte dann eine Vene zu Ende.
Milko schloss das Fenster des anatomischen Museums hinter sich, zog seine Stiefel aus und schlich, nur in Socken, an den Glasvitrinen entlang. Er kam an dem Abschnitt vorbei, der dem Verdauungstrakt Vorbehalten war, und blieb an einem riesigen Paar Klumpfüße in einem großen Glasgefäß stehen. Das Licht reichte gerade aus, um seine Umgebung einigermaßen erkennen zu können. Hier drinnen wollte er lieber nicht herumballern. Fehlte gerade noch, dass dieses widerliche Zeug überall herumspritzte. Er spürte Zugluft im Nacken und stellte seinen Kragen hoch. Stück für Stück schob er sein Gesicht in den Korridor hinaus, um die Lage zu erkunden.
Hannibals Nasenlöcher über dem Zeichenbrett weiteten sich und die Arbeitsleuchte spiegelte sich rot in seinen Augen.
Milko spähte den Korridor hinunter und durch den offenen Eingang des Sektionssaals. Hannibal hatte ihm den Rücken zugekehrt. Er machte sich mit einer großen mit Färbemittel gefüllten Spritze an der Leiche zu schaffen. Um auf ihn zu schießen, war Milko noch zu weit entfernt, weil der Schalldämpfer das Visier verdeckte. Nicht auszudenken, wenn er ihn nicht richtig traf oder sogar ganz verfehlte und ihm dann hier drinnen hinterherrennen musste und dabei Gott weiß was alles umstieß. Widerlich, womit man hier vollgespritzt werden konnte, eins ekelhafter als das andere.
Milko nahm die geringfügige Anpassung des Herzens vor, die wir machen, bevor wir töten.
Hannibal verschwand aus seinem Blickfeld, und Milko konnte nur noch seine Hand auf dem Zeichenbrett sehen, wie sie zeichnete und zeichnete und hier und da ein bisschen radierte.
Plötzlich legte Hannibal unvermutet den Stift beiseite, kam in den Durchgang zum Flur und machte das Licht an. Milko zog sich ins Museum zurück, dann ging das Licht wieder aus. Milko linste um den Türrahmen. Hannibal arbeitete wieder an der zugedeckten Leiche.
Milko hörte die Seziersäge. Als er das nächste Mal um den Türstock spähte, war Hannibal nicht mehr zu sehen.
Schon wieder beim Zeichnen. Langsam habe ich die Schnauze voll von dieser Scheiße. Ich gehe da jetzt rein und knalle den kleinen Pisser ab – und sage ihm, er soll Dortlich schön grüßen, wenn er zur Hölle fährt.
Milkos nur in Socken steckenden Füße machten nicht das leiseste Geräusch auf dem Steinboden, als er mit weit ausholenden Schritten den langen Korridor hinunterhuschte. Am Durchgang zum Sektionssaal blieb er stehen. Ein kurzer Blick auf die Hand über dem Zeichenbrett, und er hob die Pistole und trat durch die Tür. Er sah die Hand und den Ärmel, aber der weiße Laborkittel lag daneben auf dem Stuhl – Wer ist der Rest von dem Kerl? –, und da stand Hannibal plötzlich neben ihm und stieß ihm die mit Alkohol gefüllte Spritze seitlich in den Hals, fing ihn auf, als seine Beine einknickten und die Augen sich nach oben verdrehten, und ließ ihn behutsam zu Boden sinken.
Alles schön der Reihe nach. Hannibal brachte die Hand des Toten wieder an und nähte sie mit ein paar raschen Stichen fest. »Tut mir leid«, sagte er zu der Leiche. »Ich werde Ihrem Bericht ausdrücklich ein paar Worte des Dankes hinzufügen.«
Brennen, Husten, Kälte auf Milkos Gesicht, als er wieder zu sich kam. Seine Umgebung zunächst verschwommen, dann allmählich klarer werdend. Der Versuch, sich die Lippen zu lecken, endete in heftigem Spucken und Prusten. Ein Wasserschwall, der in sein Gesicht klatschte.
Hannibal stellte den Krug mit kaltem Wasser auf den Rand des Leichentanks und setzte sich wie zu einem lockeren Gespräch. Milko hing in dem Kettengeschirr, mit dem die Leichen in den Tank gehievt wurden, bis zum Hals in der Formalinlösung. Die anderen Bewohner
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