Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Tür ging auf. Hinter der Sonnenblende auf der Fahrerseite steckte ein Umschlag, der verschiedene Papiere enthielt. Er sah sie rasch durch.
Hannibal legte eine lange Planke, die er hinten auf dem Lkw entdeckt hatte, an das Heck des Lasters und schob sein Motorrad auf die Ladefläche. Dann fuhr er mit dem Fünftonner zur Porte de Montempoivre am Bois de Vincennes und stellte ihn an den Bahngleisen auf einem Abstellplatz für Lkws ab. Er schraubte die Nummernschilder ab, schob sie zusammen mit Milkos Revolver unter den Fahrersitz und schloss das Führerhaus zu.
Hannibal Lecter saß in einem Obstgarten auf seinem Motorrad und aß sein Frühstück. Es bestand aus köstlichen afrikanischen Feigen, die er auf dem Markt in der Rue de Buci gekauft hatte, und aus ein paar Scheiben westfälischen Schinkens. Von seinem erhöhten Standort konnte er die Straße sehen, die am Fuß des Abhangs entlanglief, und einen halben Kilometer weiter den Eingang von Vladis Grutas’ Villa.
Der Obstgarten war erfüllt vom lauten Summen der Bienen, von denen einige hartnäckig um seine Feigen kreisten, bis er die süßen Früchte mit seinem Taschentuch zudeckte. Von Federico Garcia Lorca, der in Paris gerade wieder sehr en vogue war, stammte der Satz, das Herz sei ein Obstgarten. Hannibal dachte gerade über dieses Bild nach und, wie bei jungen Männern üblich, auch über die Formen von Birnen und Pfirsichen, als unter ihm der Lkw eines Zimmermanns vorbeifuhr und am Eingangstor zu Grutas’ Grundstück anhielt.
Hannibal hob das Fernglas seines Vaters an die Augen.
Vladis Grutas bewohnte eine Villa im Bauhausstil, die man 1938 inmitten von Wiesen und Feldern mit Blick auf die Essonne errichtet hatte. Weil sie im Krieg vernachlässigt worden war und keine Dachrinnen hatte, zogen sich an den weißen Außenwänden dunkle Feuchtigkeitsflecken hinab. Die Fassade und eine der Seitenwände waren in leuchtendem Weiß frisch gestrichen worden, und die noch nicht ausgebesserten Wände waren eingerüstet. Die Deutschen, denen die Villa während der Besatzungszeit als Stabshauptquartier gedient hatte, hatten verschiedene zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen angebracht.
Das Grundstück, auf dem der Glas- und Betonkubus der Villa stand, war von einem hohen Maschendrahtzaun und Stacheldraht umgeben. Neben dem Eingangstor stand ein Wachhaus aus Beton, das die Form einer Pillendose hatte. Die Bedrohlichkeit des schmalen, quer über die ganze Vorderseite verlaufenden Fensterschlitzes wurde nur durch einen Blumenkasten entschärft. Durch das Fenster konnte ein Maschinengewehr die ganze Straße unter Beschuss nehmen, wenn sein Lauf die Blumen beiseiteschob.
Aus dem Wachhaus kamen zwei Männer, einer blond, der andere dunkelhaarig und tätowiert. Sie schauten mit einem an einer langen Stange angebrachten Spiegel unter den Lkw. Die Zimmerleute mussten aussteigen und ihre Ausweise vorzeigen. Nach einigem Gestikulieren und achselzuckenden Hin und Her winkten die Wachmänner den Laster durch.
Hannibal fuhr mit dem Motorrad zu einem Wäldchen und stellte es im Unterholz ab. Er schloss die Zündung des Motorrads mit einem Stück verborgenem Draht hinter den Kontakten kurz und legte einen Zettel auf den Sattel, auf dem stand, dass er Ersatzteile holen war. Dann ging er eine halbe Stunde den Hügel hinauf, bis er die Straße oben auf dem Kamm erreichte, und fuhr per Anhalter nach Paris zurück.
Das Auslieferungslager des Geschäfts Gabrielle Musikinstru mente befand sich in der Rue de Paradis zwischen einem Lampengeschäft und einer Kristall-Reparaturwerkstatt. Es war kurz vor Geschäftsschluss, als Lagerarbeiter einen Bösendorfer-Stutzflügel und eine Kiste mit einem Klavierhocker auf Milkos Laster luden. Hannibal unterschrieb den Lieferschein mit »Zigmas Milko«.
In der Zwischenzeit waren mehrere Lkws des Musikinstrumentengeschäfts am Ende des Arbeitstages von ihren Auslieferungstouren zurückgekommen. Hannibal beobachtete, wie aus einem von ihnen eine Fahrerin stieg. Sie sah gar nicht übel aus, wie sie in ihrem Overall mit den Hüften wackelnd in die Lagerhalle ging. Wenige Minuten später kam sie in Hose und Bluse, den Overall zusammengelegt unter dem Arm, wieder nach draußen und verstaute ihre Arbeitskleidung in der Satteltasche eines kleinen Motorrads. Sie spürte, dass Hannibal sie beobachtete, und drehte ihm ihr Straßenjungengesicht zu. Sie holte eine Zigarette heraus, und er gab ihr Feuer.
»Merci, Monsieur ... Zippo.« Die Frau hatte etwas
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