Hannibal
Gefühl von Bodenhaftung. Starling rannte durch den strahlend schönen Tag. Über ihr tanzten Lichtreflexe im Laubwerk, und vor ihr lag der gesprenkelte Pfad, der an einigen Stellen von Schattenstreifen gekreuzt wurde, die das schräg einfallende Morgenlicht durch die Bäume warf. Starling blieb buchstäblich das Herz stehen. Direkt vor ihr sprang Hochwild, zwei Hirschkühe und ein Junghirsch, mit einem riesigen Satz ins Unterholz. Als sie davonsprangen, leuchteten die weißen Wedel im Dämmerlicht des tiefen Waldes auf. Erfreut machte Starling selbst einen kleinen Sprung. Unbeweglich, wie eine Figur auf einem mittelalterlichen Wandteppich, saß Hannibal Lecter am Berghang oberhalb des Flusses im Laub. Er konnte knapp einhundertfünfzig Meter von Starlings Laufstrecke einsehen. Seinen Feldstecher hatte er mit einer selbstgebastelten Papp-Ummantelung so abgeschirmt, daß er keine verräterischen Lichtreflexe aussandte. Zuerst sah er das Hochwild davonspringen und den Hügel in seine Richtung bergauf jagen, und dann, zum erstenmal seit sieben Jahren, sah er Clarice Starling. Sein Gesicht unter dem Feldstecher blieb unbewegt, einzig seine Nasenflügel vibrierten leicht beim Einatmen, als ob er ihre Witterung auf diese Entfernung hin aufnehmen könnte. Der Atemzug brachte ihm den Geruch von trockenem Laub mit einem Hauch von Zimt, den vermodernden Blättern darunter und dem leicht verwesenden Mastfutter, einen Hauch von Kaninchenköttel ein paar Meter entfernt, den durchdringenden Moschusgeruch eines zerfetzten Eichhörnchenfells unter dem Laub, nicht jedoch den Geruch von Starling, den er überall hätte herausriechen können. Er sah das Hochwild vor ihr flüchten, sah es noch lange, nachdem es aus Starlings Sicht verschwunden war, weiterspringen. Sie war für weniger als eine Minute in seinem Blickfeld, ließ sich von ihrem Schritt tragen und kämpfte nicht gegen den Boden an. Hoch auf dem Rücken trug sie einen kleinen Rucksack, aus dem eine Wasserflasche ragte. Von hinten durch das Morgenlicht angestrahlt, das die Konturen sanft verwischte, sah es aus, als wäre sie mit Pollen bestäubt. Als er ihr mit dem Feldstecher folgte, wurde er von einem Lichtreflex des Wasserlaufs hinter ihr so geblendet, daß er für Minuten dunkle Punkte vor seinen Augen tanzen sah. Sie entschwand seinem Blick, als sich der Pfad in einer Senke verlor. Das letzte, was er von ihr wahrnahm, war ihr Hinterkopf mit dem Pferdeschwanz, der wie der Wedel eines Weißwedelhirsches auf und nieder wippte. Dr. Lecter verharrte bewegungslos, machte keinen Versuch, ihr zu folgen. Er sah ihr Bild, wie sie lief, klar und deutlich vor sich. Sie würde vor seinem inneren Auge so lange laufen, wie er es sich wünschte. Das erste Mal seit sieben Jahren, daß er sie wirklich sah die Fotos in der Boulevardpresse oder das flüchtige Erhaschen ihres Kopfes durch Autoscheiben hindurch nicht mitgerechnet. Er legte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen ins Laub zurück und schaute in das dünner werdende Blätterwerk des Ahorns über sich, das vor dem dunklen Himmel im Wind rauschte. Einem Himmel, der so dunkel war, daß er beinahe purpurn wirkte. Purpurn, purpurn, die wilden Muskatellertrauben mit den prallen, staubigen Früchten, die schon anfingen, leicht runzlig zu werden, waren auch purpurn. Er hatte sie auf dem Weg zum Hügel hinauf büschelweise gepflückt, hatte ein paar gegessen und einige in der hohlen Hand zerdrückt und wie ein Kind den Saft von der Handfläche geleckt. Purpurn, purpurn ... Purpurn war die Aubergine im Garten. Es gab tagsüber kein heißes Wasser in der hochgelegenen Jagdhütte, darum trug Mischas Amme die zerbeulte Kupferwanne in den Küchengarten, damit die Sonne das Badewasser für die Zweijährige wärmte. Mischa saß inmitten der Gemüsebeete in der schimmernden Wanne in der warmen Sonne. Kohlweißlinge umgaukelten sie. Obwohl das Wasser gerade mal ihre kleinen stämmigen Beinchen bedeckte, war ihrem ernsten Bruder Hannibal und dem großen Wachhund strengstens eingeschärft worden, auf sie aufzupassen, während die Amme in die Hütte ging, um ein Badetuch zu holen. Hannibal Lecter hatte in den Augen mancher Bediensteter etwas
Furchteinflößendes an sich. Ein Kind, beängstigend intensiv und altklug. Der alten Amme jedoch, die ihr Geschäft kannte, jagte er keinen Schrecken ein, und gleiches galt für Mischa, die ihre wie Sterne geformten Babyhände auf seine Wangen legte und ihm ins Gesicht lachte. Mischa streckte die Arme
Weitere Kostenlose Bücher