Hannibal
Astrophysiker Stephen Hawking und sein Werk. Er hatte ihn schon viele Male zuvor gesehen. Das hier war seine Lieblingsstelle, wo die Teetasse vom Tisch fiel und auf dem Boden zersprang. Hawking, verkrümmt in seinem Rollstuhl sitzend, spricht mit seiner computergenerierten Stimme: »Woher rührt der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft? Die Gesetze der Wissenschaft unterscheiden nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft. Trotzdem existiert ein großer Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft im alltäglichen Leben. Sie können eine Tasse Tee von einem Tisch fallen und auf dem Fußboden in Stücke springen sehen. Aber Sie werden niemals sehen, daß sich eine Tasse selbst wieder zusammensetzt und zurück auf den Tisch springt.« Der rückwärts laufende Film zeigt eine Tasse, die sich selbst wieder zusammenfügt. Hawking fährt fort: »Die Zunahme von Unordnung oder Entropie ist das, was die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet, indem sie der Zeit eine Richtung gibt.« Dr. Lecter bewunderte Hawkings Arbeit sehr und verfolgte sie in Mathematikzeitschriften so genau wie möglich. Er wußte, daß Hawking früher geglaubt hatte, das Universum höre auf, sich auszudehnen, und schrumpfe wieder, die Entropie kehre sich selbst um. Später sagte Hawking, daß er sich geirrt habe. Dr. Lecter war durchaus in der Lage, in die Gefilde der höheren Mathematik vorzustoßen. Stephen Hawking bewegt sich jedoch auf einer Ebene, die der unseren völlig entrückt ist. Über Jahre hinweg hatte sich Lecter mit dem Problem abgequält und gehofft, daß Hawking mit der ersten Theorie doch recht gehabt hätte, daß die Ausdehnung des Universums anhalten, die Entropie sich selbst in Ordnung bringen, daß Mischa, gefressen, wieder ganz sein würde. Zeit. Dr. Lecter hielt sein Videoband an und schaltete zu den Nachrichten um. Fernseh- und Nachrichtenereignisse, die das FBI betrafen, wurden täglich auf der öffentlich zugänglichen Website des FBI aufgelistet. Dr. Lecter suchte die Website jeden Tag auf, um sicherzugehen, daß das FBI unter den zehn »most wanted« noch immer sein altes Konterfei verwendete. So erfuhr er rechtzeitig vom Geburtstag des FBI, um die Nachrichten anzuschalten. Er saß, mit einer Hausjacke und Halstuch bekleidet, in einem großen Ohrensessel und sah Krendler lügen. Er beobachtete Krendler unter halbgeschlossenen Lidern, hielt sich das Cognacglas unter die Nase und schwenkte es langsam hin und her. Er hatte dieses bleiche Gesicht das letzte Mal vor sieben Jahren gesehen, als Krendler kurz vor seiner Flucht vor seinem Käfig in Memphis gestanden hatte. In den Washingtoner Lokalnachrichten sah er, wie Starling einen Strafzettel bekam und die Pressemeute Mikrofone ins
heruntergekurbelte Fenster des Mustangs hielt. Zu diesem Zeitpunkt war Starling laut Fernsehnachrichten bereits »des Bruchs USamerikanischer Sicherheitsgesetze« im Lecter-Fall angeklagt. Dr. Lecters kastanienbraune Augen öffneten sich weit bei Starlings Anblick. In den Tiefen seiner Pupillen wirbelten Funken um das Bild ihres Gesichts. Er behielt ihren Gesichtsausdruck noch lange, nachdem sie vom Bildschirm verschwunden war, vollständig und vollkommen im Gedächtnis und preßte ihr Bild mit einem anderen zusammen, preßte es mit Mischa zusammen, preßte die beiden zusammen, bis aus dem roten Plasmakern ihrer Verschmelzung Funken himmelwärts stoben, bis sie ein einziges Bild in den Nachthimmel gen Osten trugen, wo es sich über dem Meer mit den Sternen im Kreis drehte. Nun, sollte sich das Universum doch zusammenziehen, sollte sich die Zeit doch umkehren und sich Teetassen wieder zusammenfügen, Mischa konnte ein Platz in der Welt geschaffen werden. Den würdigsten aller Orte, den Dr. Lecter kannte: Starlings Platz. Mischa könnte Starlings Platz in der Welt einnehmen. Falls es dazu kommen sollte, falls diese Zeit wiederkehrte, würde Starlings Hinscheiden einen Ort für Mischa hinterlassen, der ebenso glänzend und rein war wie die kupferne Badewanne im Garten.
KAPITEL 74
Dr. Lecter parkte seinen Pick-up einen Block vom Maryland Misericordia Hospital entfernt und wischte die Quarter ab, bevor er sie in die Parkuhr warf. Er trug einen wattierten Overall, wie ihn Arbeiter zum Schutz gegen Kälte trugen, und wegen der Überwachungskameras eine Baseballkappe mit großem Schild. So passierte er den Haupteingang. Es war mehr als fünfzehn Jahre her, seit Dr. Lecter das letzte Mal das Maryland Misericordia Hospital betreten hatte, aber
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