Hannibal
es schien baulich weitgehend unverändert. Es bedeutete ihm nichts, diesen Ort wiederzusehen, wo seine medizinische Laufbahn ihren Anfang genommen hatte. Die gesicherten Bereiche eine Treppe höher waren zwar renoviert worden, sollten aber eigentlich, den Plänen des Grundbuchamts zufolge, immer noch so sein, wie er sie aus seiner Zeit als praktizierender Arzt kannte. Ein Besucherausweis von der Anmeldung verschaffte ihm Zutritt zu den Patientenstockwerken. Er lief, die Namen der Patienten und Ärzte von den Zimmertüren ablesend, den Gang hinunter. Das hier war der Aufwachraum. Dorthin brachte man die Patienten, die nach einer Herz- oder Gehirnoperation aus der Obhut der Intensivmedizin entlassen worden waren. Wenn man Dr. Lecter dabei beobachtete, wie er den Gang entlangschritt, hätte man meinen können, daß er sehr langsam las, seine Lippen bewegten sich tonlos, und von Zeit zu Zeit kratzte er sich wie ein Bauer verlegen am Kopf. Dann nahm er im Warteraum Platz, von wo aus er den Gang einsehen konnte. Er wartete anderthalb Stunden zwischen alten Frauen, die ihre Familientragödien erzählten, und ließ »Der Preis ist heiß« im Fernsehen über sich ergehen. Schließlich sah er, wonach er Ausschau gehalten hatte, einen Chirurgen in OP-Kleidung, der seine Runde allein machte. Das also wäre ... der Chirurg schickte sich an, einen Patienten von ... Dr. Silverman zu sehen. Dr. Lecter erhob sich und kratzte sich am Kopf. Er nahm sich eine abgegriffene Zeitschrift vom Tisch und verließ den Warteraum. Zwei Türen den Gang hinunter lag ein Zimmer mit einem weiteren Patienten von Dr. Silverman. Dr. Lecter huschte in den Raum, der in Halbdunkel getaucht war. Zufrieden stellte er fest, daß der Patient schlief und sein Kopf und eine Gesichtshälfte bandagiert war. Auf dem Monitor pulste gleichmäßig ein Lichtwurm. Dr. Lecter streifte schnell den schützenden Overall ab, er trug OPKleidung darunter. Er zog Schuhschützer, eine Kappe, Mundschutz und Handschuhe an. Seiner Tasche entnahm er eine weiße Mülltüte und entfaltete sie. Dr. Silverman betrat, über die Schulter mit jemandem auf dem Gang sprechend, den Raum. Kam er in Begleitung einer Krankenschwester? Nein. Dr. Lecter nahm den Abfalleimer und begann, mit dem Rücken zur Tür gewandt, den Inhalt in seine Mülltüte zu kippen. »Entschuldigen Sie, Doktor, ich bin schon auf dem Weg«, sagte Dr. Lecter. »Das geht schon in Ordnung«, sagte Dr. Silverman und nahm sich das Klemmbrett vom Ende des Bettes. »Tun Sie, was Sie tun müssen.« »Vielen Dank«, sagte Dr. Lecter und ließ den Totschläger mit einer kleinen Schnalzbewegung aus dem Handgelenk auf den Hinterkopf des Chirurgen sausen. Als der in sich zusammensackte, fing er ihn mit einem Griff um die Brust auf. Es ist immer wieder überraschend zu sehen, wie Dr. Lecter einen Körper hochhebt; was seine Körperkraft angeht, hat er Ähnlichkeit mit einer Ameise. Dr. Lecter schleifte Dr. Silverman ins Badezimmer. Dort zog er ihm die Hosen herunter und setzte ihn auf die Toilette. Der Chirurg saß bewußtlos da, sein Kopf hing vornüber gebeugt über seinen Knien. Dr. Lecter richtete Dr. Silvermans Oberkörper kurz auf, um ihm in die Pupillen zu schauen und das Set von ID-Schildchen abzunehmen, das an seine OP-Kleidung geheftet war. Er ersetzte den Ausweis des Doktors durch seinen Besucherausweis und umgekehrt. Er hängte das Stethoskop in der für Chirurgen so typischen Boa-Windung um seinen Hals. Die kunstvoll gearbeitete, vergrößernde
Chirurgenbrille des Doktors wanderte auf seinen Kopf. Den Totschläger schob er wieder die Innenseite seines Ärmels hinauf. Jetzt war er bereit, in das Zentrum des Maryland Misericordia Hospital vorzustoßen. Das Hospital hält sich im Umgang mit Narkotika strikt an die staatlichen Richtlinien. Auf den
Patientenstockwerken werden sie in den Giftschränken der Schwesternzimmer unter Verschluß gehalten. Zwei Schlüssel sind notwendig, um sie zu öffnen. Den einen hat die diensthabende Schwester, den anderen ihre erste Assistentin. Zudem wird streng Buch geführt. In den Operationssälen, den am meisten gesicherten Bereichen des Hospitals, wird jede Einheit vor der anstehenden Operation, wenige Minuten bevor der Patient eintrifft, mit Medikamenten versorgt. Die Arzneimittel für den Anästhesisten sind nahe dem Operationstisch in einem Laborschrank
untergebracht, der einen gekühlten und einen Bereich mit Raumtemperatur hat. Der Bestand an Rauschmitteln wird, getrennt davon, in
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