Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
Vom Netzwerk:
verschloß die Tür und stand für ein paar Minuten mit der Stirn gegen den kühlen Eisschrank gelehnt. 504

KAPITEL 99
    Starling erwachte von leiser Kammermusik und einem
schmeichelnden Duft, der aus der Küche kam. Sie fühlte sich wunderbar erfrischt und sehr hungrig. Ein Klopfen an ihrer Tür, und Dr. Lecter trat ein, bekleidet mit einer dunklen Hose, einem weißen Hemd und einem Halstuch. Über dem einen Arm trug er einen langen Kleidersack. Mit der freien Hand servierte er ihr einen heißen Cappuccino. »Haben Sie gut geschlafen?« »Großartig, danke.« »Der Küchenchef teilt mir mit, daß wir in anderthalb Stunden zu Tisch gehen können. Cocktails in einer Stunde, geht das für Sie in Ordnung? Ich dachte mir, daß Ihnen das hier vielleicht gefallen könnte - schauen Sie, ob es Ihnen paßt.« Er hing den Kleidersack in den Schrank und verließ das Zimmer geräuschlos. Sie schaute erst in ihren Schrank, nachdem sie ausgiebig gebadet hatte. Und was sie sah, gefiel ihr: ein langes cremefarbenes Abendkleid, schmal, aber tief dekolletiert unter einer kostbaren, perlenbesetzten Jacke. Auf der Frisierkommode lag ein Paar Ohrringe mit Cabochons und Smaragden. Die Steine hatten für einen nicht facettierten Schliff sehr viel Feuer. Mit ihrem Haar hatte sie noch nie Schwierigkeiten gehabt. Sie fühlte sich sehr wohl in den Kleidern. Obwohl sie an große Abendgarderobe keineswegs gewöhnt war, betrachtete sie sich nicht lange im Spiegel, schaute nur, ob alles richtig saß. Der deutsche Vermieter hatte seine Kamine überdimensional gebaut. Im Salon fand Starling einen ansehnlichen Holzscheit lodern. Sie näherte sich der warmen Feuerstelle mit einem Knistern von Seide. Musik vom Cembalo aus der Ecke. Am Instrument saß Dr. Lecter mit einer weißen Krawatte. Er schaute auf, erblickte sie, und es verschlug ihm den Atem. Seine Hände hielten ebenfalls in ihrem Spiel inne, schwebten über der Tastatur. Die Töne eines Cembalos tragen nicht, und in der plötzlichen Stille des Raumes hörten sie beide, wie er seinen nächsten Atemzug tat. Zwei Drinks warteten vor dem Feuer auf sie. Er kümmerte sich darum. Lillet mit einer Orangenscheibe. Dr. Lecter reichte Clarice Starling ein Glas. »Wenn ich Sie jeden Tag sähe, für alle Zeiten, ich würde diesen Abend erinnern.« Seine dunklen Augen umfaßten sie. »Wie viele Male haben Sie mich gesehen? Von denen ich nichts weiß?« »Nur dreimal.« »Aber hier
-« »Liegt außerhalb der Zeit, und was ich sehe, wenn ich mich um Sie kümmere, verletzt nicht Ihre Intimsphäre. Das hat seinen eigenen Ort, zusammen mit Ihrer Krankenakte. Ich gebe allerdings zu, es ist entzückend, Ihnen beim Schlafen zuzusehen. Sie sind eine Schönheit, Clarice.« »Aussehen widerfährt einem, Dr. Lecter.« »Wenn Schönheit zu verdienen wäre, Sie wären noch immer schön.« »Danke.« »Sagen Sie nicht danke.« Eine winzige Bewegung seines Kopfes reichte aus, um seinen Arger zu zerschmettern, wie ein Glas, das man in den Kamin warf. »Ich sage, was ich denke«, erwiderte Starling. »Wäre es mehr nach Ihrem Geschmack, wenn ich sagte: >Ich bin entzückt darüber, daß ich Ihnen gefallen? Das wäre ein wenig phantasievoller und ebenso wahr.« Sie hob ihr Glas bis knapp unter ihren entwaffnenden Blick und nahm nichts von dem Gesagten zurück. In diesem Augenblick begriff Dr. Lecter, daß er mit all seinem Wissen und seiner Einmischung sie niemals vollständig in ihrem Tun würde voraussagen können, geschweige denn besitzen. Er konnte die Raupe füttern, er konnte durch die Schmetterlingspuppe flüstern; doch was ausschlüpfte, folgte seiner eigenen Natur und war jenseits seines Zugriffs. Er fragte sich, ob sie die .45er unter dem Abendkleid an ihrem Bein trug. Clarice Starling lächelte ihn an, die Cabochons fingen das Kaminfeuer auf, und das Ungeheuer verlor sich in Selbstlob über seinen exquisiten Geschmack und seine Gerissenheit. »Clarice, Essen spricht Geschmack und Geruch an, die ältesten und dem Zentrum unseres Gehirns am nächsten gelegenen Sinne. Geschmack und Geruch sind in den Teilen des Gehirns untergebracht, die dem Mitleid vorausgehen, und Mitleid hat keinen Platz an meiner Tafel. Zur gleichen Zeit finden in der Kuppel der Cortex, wie Wunder, die die Decke einer Kirche illuminieren, spielerisch die Zeremonien und die Anblicke und der Austausch während des Essens statt. Das kann weitaus einnehmender sein als Theater.« Er brachte sein Gesicht ganz nahe an das ihre heran und versuchte, in

Weitere Kostenlose Bücher