Hannibal
wartete einen Augenblick auf das Seufzen der Maschine. »Es war ein Lager, das von der katholischen Kirche ausgerichtet wurde und für das mein Vater bezahlt hatte. Er kam für alles auf, für sämtliche einhundertfünfundzwanzig
Zeltlagerbegeisterte am Lake Michigan. Einige von ihnen waren so arm, das sie für ein Stück Schokolade alles getan hätten. Es kann sein, daß ich das zu meinem Vorteil genutzt habe. Vielleicht war ich aber auch einfach nur hart zu ihnen, weil sie die Schokolade nicht annehmen wollten und verweigerten, was ich von ihnen verlangte ich verschweige hier nichts, ich habe meinen Frieden gefunden.« »Mr. Verger, lassen Sie uns einen Blick auf die Unterlagen mit der gleichen -« Er hörte ihr nicht zu. Er wartete lediglich darauf, daß die Maschine ihm wieder Luft zum Atmen gab. »Ich genieße Immunität, Miss Starling. Ich habe Frieden mit mir gemacht. Jesus Christus hat mich von meinen Sünden
losgesprochen. Die Staatsanwaltschaft gewährt mir Immunität, desgleichen die Bezirksstaatsanwaltschaft in Owing Mills, Halleluja. Ich bin frei, Miss Starling, die Dinge haben zu ihrer Ordnung gefunden. Der Herr ist an meiner Seite, und alles ist gut. Er, der Auferstandene, ist bei mir. Im Lager haben wir ihn immer den Auferstandenen genannt. Niemand steht so schnell auf wie er. Wir haben darauf geachtet, daß Religion nicht weltfremd daherkam. Der Auferstandene, ich habe ihm in Afrika gedient, Halleluja. Ich habe ihm in Chicago gedient, gepriesen sei sein Name. Und ich diene ihm jetzt, und er wird mich von meinem Bett auferstehen lassen. Er wird meine Feinde heimsuchen und vor mir hertreiben, und ich werde das Wehklagen ihrer Frauen hören, und alles wird gut werden.« Er verschluckte sich an seinem Speichel und brach ab. Die Adern auf seiner Stirn quollen dunkel hervor und pulsierten heftig. Starling erhob sich, um den Pfleger zu rufen, aber seine Stimme hielt sie zurück, noch ehe sie die Tür erreicht hatte. »Mir geht es gut. Es ist alles in Ordnung.« Vielleicht brachte eine direkte Frage mehr Erfolg als der Versuch, ihn über Umwege zum Sprechen zu bringen. »Mr. Verger, waren Sie, bevor das Gericht Sie dazu verpflichtete, bei Dr. Lecter in Behandlung? Kannten Sie ihn persönlich?« »Nein.« »Sie waren doch beide im Vorstand des Baltimorer Philharmonieorchesters.« »Nein, mein Sitz im Vorstand verdankte sich allein der Tatsache, daß meine Familie das Orchester finanziell unterstützte. Ich habe meinen Anwalt hingeschickt, wenn eine Abstimmung anstand.« »Sie haben im Prozeß gegen Dr. Lecter nicht ausgesagt?« Mit der Zeit gelang es ihr, die Fragen so zu stellen, daß er ausreichend Atem hatte, sie zu beantworten. »Die sagten mir damals, daß sie genug Belastungsmaterial hätten, um eine Verurteilung in sechs, in neun Fällen zu erreichen. Aber er hat auf geisteskrank plädiert und sie allesamt aus dem Feld geschlagen.« »Das Gericht hat ihn für nicht zurechnungsfähig erklärt. Dr. Lecter selbst hat niemals vor Gericht ausgesagt.« »Halten Sie diese Unterscheidung für so wesentlich?« fragte Mason. Mit dieser Frage bekam sie zum erstenmal seinen innersten Kern zu Gesicht, angriffslustig, mit einem Hang zur Verschlagenheit. Er bedachte sie nicht länger mit Worthülsen wie noch wenige Augenblicke zuvor. Der große Aal, mittlerweile mit den neuen Lichtverhältnissen vertraut, glitt an den Steinen in seinem Aquarium hoch und begann sich unermüdlich in Achten zu winden, ein wogendes braunes Band, wunderschön gemustert mit unregelmäßigen cremefarbenen Punkten. Starling war sich seiner Anwesenheit am Rand ihres Gesichtsfeldes die ganze Zeit über bewußt gewesen. »Eine Muraena Kidoko«, sagte Mason. »In Tokio wird sogar eine noch größere in Gefangenschaft gehalten. Diese hier ist die zweitgrößte. Gewöhnlich nennt man sie auch Killermuräne. Eine kleine Demonstration gefällig?« »Nein«, sagte Starling und schlug eine Seite in ihrem Notizbuch um. »Meinen Notizen entnehme ich, daß Sie im Verlauf der Ihnen vom Gericht auferlegten Therapie Dr. Lecter zu sich nach Hause eingeladen haben.« »Ich schäme mich dessen nicht länger. Ich stehe Ihnen uneingeschränkt Rede und Antwort, ich habe meinen Frieden gefunden. Man war damals bereit, die hochgekochte Geschichte mit der Belästigung zu vergessen, sofern ich fünfhundert Stunden gemeinnützige Arbeit im Tierheim ableisten und mich bei Dr. Lecter in Therapie begeben würde. Ich dachte, wenn ich den Doktor dazu brachte, sich auf
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