Hannibal
Sie gingen an Barneys Apartmenthaus vorüber zu der Rasenfläche, wo die Taube noch immer den toten Körper ihres Gefährten umkreiste. Barney scheuchte sie mit einer Handbewegung weg. »Verschwinde«, sagte er zu dem Vogel. »Du hast lange genug getrauert. Wenn du hier weiter so herumläufst, holen dich noch die Katzen.« Die Taube flog gurrend davon. Sie sahen nicht, wo sie sich niederließ. Barney hob den toten Vogel auf. Der zartgefiederte Körper glitt leicht in seine Tasche. »Wissen Sie, Dr. Lecter hat einmal auch über Sie geredet. Vielleicht war es das letzte Mal, als ich mich mit ihm unterhalten habe. Auf jeden Fall eines unserer letzten Gespräche. Der Vogel erinnert mich irgendwie daran. Wollen Sie wissen, was er gesagt hat?« »Warum nicht«, antwortete Starling. Das Frühstück begann sich leicht in ihrem Magen zu rühren. Sie war fest entschlossen, keine Miene zu verziehen. »Wir sprachen über ererbtes, uns Menschen bestimmendes Verhalten. Er illustrierte den Gedanken am Beispiel der Entwicklungsgeschichte der Flugtauben. Sie steigen hoch in die Lüfte, drehen und drehen sich rückwärts und rasen dem Erdboden entgegen. Es gibt horizontal drehende und vertikal drehende unter ihnen. Man darf auf gar keinen Fall zwei vertikal drehende zusammenbringen, da sich deren Nachkommenschaft während des Sturzflugs unaufhaltsam drehen wird, auf dem Boden aufschlagen und sterben wird. Dann sagte er folgendes über Sie: >Agent Starling hat einen Hang zur Vertikalen, Barney. Hoffen wir, daß nicht beide Elternteile diese fatale Neigung hatten.« Starling hatte schwer daran zu schlucken. »Was werden Sie mit dem toten Vogel machen?« fragte sie. »Rupfen und essen«, sagte Barney. »Kommen Sie, dann gebe ich Ihnen die Röntgenaufnahme und die Bücher.« Während sie das lange Paket den Weg zurück zum Krankenhaus und zu ihrem Wagen schleppte, hörte Starling noch einmal den Klageruf der überlebenden Taube aus den Bäumen.
KAPITEL 13
Zwei Verrückten, der Überlegung des einen und der Obsession des anderen, verdankte es Starling, daß sie - im Augenblick jedenfalls über etwas verfügte, was sie sich immer gewünscht hatte, ein Büro in den Katakomben der Abteilung für Verhaltensforschung. Es war bitter, das Büro auf diese Weise zu bekommen. Starling hatte nie erwartet, direkt von der FBI-Akademie zur Eliteabteilung Verhaltensforschung zu gelangen. Aber sie hatte daran geglaubt, daß sie sich dort einen Platz verdienen würde. Sie wußte, daß sie zunächst einige Jahre in den Außenstellen zuzubringen hatte. Starling war gut in ihrem Job, aber weniger gut in ihrer
Selbstdarstellung. Es kostete sie Jahre, ehe sie begriff, daß sie trotz des dringenden Wunsches des Abteilungsleiters Jack Crawford nie ihren Weg in die Verhaltensforschung machen würde. Einer der Hauptgründe dafür war für sie nicht erkennbar, bis sie, wie ein Astronom, der ein Schwarzes Loch aufspürt, entdecken mußte, daß Deputy Assistant Inspector General Paul Krendler seinen Einfluß auf die Leute um sie herum geltend machte. Er hatte ihr nicht verziehen, daß sie vor ihm den Serienkiller Jame Gumb dingfest gemacht hatte. Ganz zu schweigen von der Aufmerksamkeit in den Medien, die ihr dieser Erfolg eingetragen hatte. Einmal hatte Krendler sie an einem regnerischen Winterabend zu Hause angerufen. Sie war im Bademantel, in ihren Häschenpantoffeln und mit einem Handtuch um das Haar geschlungen ans Telefon gegangen. Sie würde sich ihr Lebtag an das Datum des Anrufs erinnern. Es war die erste Woche der »Operation Wüstensturm« gewesen. Starling, zu der Zeit mehr Technikerin als Agentin, war gerade aus New York zurückgekommen, wo sie das Radio in der Limousine der irakischen UN-Mission ausgetauscht hatte. Das neue Radio glich aufs Haar dem alten, sah man einmal davon ab, daß es alle im Wagen geführten Gespräche an einen Satelliten des Verteidigungsministeriums übertrug. Ein heikler Auftrag, der in einer privaten Garage über die Bühne gegangen war und Starling noch immer ganz aufgekratzt sein ließ. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie geglaubt, Krendler rufe an, um ihr seinen Glückwunsch für die gute Arbeit auszusprechen. Sie erinnerte sich noch an den Regen, der gegen die Fensterscheiben getrommelt hatte, und an die Stimme Krendlers am Telefon, ein wenig nuschelnd, im Hintergrund Bargeräusche. Er lud sie zum Essen ein, sagte, er könne in einer halben Stunde bei ihr sein. Er war verheiratet. »Ich denke, das ist keine gute
Weitere Kostenlose Bücher