Hannibal
der Verger-Patriarch, Molson, noch über allem thronte. In den Weihnachtstagen jenes Jahres, in dem Dr. Lecter die Flucht gelungen war - in der immer wiederkehrenden Stimmung, die ihn um diese Zeit befiel -, wünschte sich Mason Verger voll Bitterkeit, er hätte Lecters Ermordung im Baltimore State Hospital in Auftrag gegeben. Mason wußte, daß nun irgendwo auf Gottes weiter Flur Dr. Lecter herumspazierte und sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein schönes Leben machte. Mason selbst lag, an sein Atemgerät angeschlossen, unter einer weichen Decke, eine Schwester neben sich, die, geplagt von dem Bedürfnis, sich hinzusetzen, unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Man hatte eine Busladung voll armer Kinder zum Jubilieren auf die Muskrat Farm gekarrt. Mit dem Einverständnis seiner Ärzte waren die Fenster trotz der kalten Winterluft für kurze Zeit geöffnet worden. Unten standen die Kinder mit Kerzen in den Händen und sangen. Das Licht in Masons Zimmer war gelöscht, und in dem schwarzen Himmel über der Farm glitzerten die Sterne. »Oh, Bethlehem, du kleine Stadt, wie still liegst du doch da.« Wie still liegst du doch da. Wie still liegst du doch da. Der Hohn dieser Zeile legte sich ihm schwer aufs Gemüt. Wie still liegst du doch da, Mason. Der weihnachtliche Sternenhimmel vor seinem Fenster war von einer berückenden Stille. Die Sterne schwiegen ihn an, als er zu ihnen emporschaute mit seinem Glotzauge und seiner einen großen Sehnsucht. Mit den Fingern, die er noch bewegen konnte, machte er ihnen Zeichen. Mason glaubte, nicht mehr atmen zu können. Wenn ich im Weltraum erstickte, wären die schönen, stummen, luftleeren Sterne das letzte, was ich zu sehen bekäme, dachte er. Jetzt ist es soweit, ich ersticke. Das Atemgerät lieferte nicht genügend Sauerstoff. Er mußte auf den nächsten Atemzug warten, die Lichter der Lebensfunktionen schimmerten grün, kleine grüne Spitzen in der Finsternis der Gerätewelt. Die Kurve seines Herzschlags, systolische Kurve, diastolische Kurve. Die Schwester bekam es mit der Angst zu tun, wußte nicht, ob sie den Alarm auslösen oder zum Adrenalin greifen sollte. Der Hohn, der in den Zeilen lag, wie still liegst du doch da, Mason. Dann eine Epiphanie an Weihnachten. Noch ehe die Schwester klingeln oder nach dem Medikament greifen konnte, nahm seine Wut vor seinem inneren Auge erstmals Konturen an. Ihm war, als striche ihm etwas über die blasse, tastende Hand, und mit einemmal kehrte Ruhe in ihn ein. Bei dem weihnachtlichen Abendmahl rund um den Globus glauben die Andächtigen, daß sie durch das Wunder der Transsubstantiation den Leib des Herrn, sein Blut zu sich nehmen. Mason begann mit den Vorbereitungen zu einer noch eindrucksvolleren Zeremonie, die ohne Transsubstantiation auskommen würde. Alle Arrangements sollten beizeiten getroffen werden, um Dr. Hannibal Lecter bei lebendigem Leib zu verspeisen.
KAPITEL 15
In seiner Kindheit genoß Mason eine sonderbare Erziehung, die den Vorstellungen seines Vaters von seiner Zukunft entsprach und die ihm bei seinem gegenwärtigen Ziel zugute kam. Als Junge besuchte er ein Internat, das von seinem Vater finanziell kräftig unterstützt wurde und wo man seine häufige Abwesenheit gern entschuldigte. Oft widmete sich der alte Verger über mehrere Wochen hinweg dem, was er die wirkliche Erziehung nannte. Dann nahm er den Jungen mit auf die Vieh- und Schlachthöfe, die die Grundlage seines Vermögens ausmachten. Molson Verger war ein Pionier auf dem Gebiet der Tierzucht, vor allem in Belangen der
Wirtschaftlichkeit. Seine frühen Experimente mit Billigfutter waren denen von Batterham fünfzig Jahre zuvor ebenbürtig. Molson Verger verfeinerte die Futtermittel für seine Schweine, indem er Tiermehl, gemahlene Hühnerfedern und Mist in einem Maß beimischte, das selbst für damalige Verhältnisse als kühn angesehen wurde. In den vierziger Jahren galt er als verwegener Visionär, der als erster den Schweinen frisches Trinkwasser vorenthielt und sie eine Mixtur aus vergorenen tierischen Abfällen saufen ließ, um die Gewichtszunahme zu beschleunigen. Das Hohngelächter verstummte, als seine Gewinne explodierten und seine Konkurrenten sich beeilten, ihm nachzueifern. Doch darauf blieb Molson Vergers Führungsanspruch in der
Fleischwarenindustrie nicht beschränkt. Er kämpfte zäh und mit viel eigenem Geld, strikt auf dem Standpunkt der Wirtschaftlichkeit beharrend, gegen die Verordnung zur artgerechten Schlachtung. Er sorgte
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