Hannibal
beim gegenwärtigen Umtauschkurs etwa zwölfhundertfünfzig Dollar waren. Die händigte er ihr in einem dicken Umschlag aus. Die Zigeunerinnen hatten nicht viel Gepäck dabei, eine kleine Reisetasche und Romulas Holzarm, der in einem Musikkoffer für ein Waldhorn verstaut war. Sie würden für den Großteil des kommenden Monats auf hoher See verbringen und von der Außenwelt abgeschnitten sein. Gnocco komme auch, erklärte Pazzi Romula zum zehntenmal, nur eben heute nicht. Sie würden bei ihrer Ankunft in Sydney auf der Hauptpost eine Nachricht von Gnocco vorfinden. »Ich halte mein Versprechen ihm gegenüber, so wie ich es euch gegenüber getan habe«, teilte er ihnen mit, als sie zusammen am Fuß der Gangway standen. Die Morgensonne warf lange Schatten auf die rauhe Oberfläche des Kais. Im Moment des Auseinandergehens, als Romula und das Baby schon ein Stück die Gangway hochgestiegen waren, sprach die alte Frau, soweit sich Pazzi erinnern konnte, zum zweiten- und letztenmal. Mit Augen so schwarz wie Kalamata-Oliven schaute sie ihm tief in die Augen. »Du hast Gnocco Scheitan geopfert«, sagte sie ruhig. »Gnocco ist tot.« Esmeralda beugte sich ungelenk nach vorn, als beugte sie sich über ein Huhn auf dem Hackbrett, und spuckte voller Inbrunst auf Pazzis Schatten. Dann eilte sie hinter Romula und dem Baby zum Schiff hinauf.
KAPITEL 30
Der DHL-Express-Versandkarton war ausgesprochen stabil. Der Fingerabdruck-Experte, der unter den heißen Strahlern am Tisch der Sitzgruppe in Mason Vergers Raum saß, drehte mit einem elektrischen Schraubenzieher vorsichtig die Schrauben heraus. Das breite Silberarmband lag auf einem samtüberzogenen
Schmuckständer, der in den Behälter eingepaßt und fixiert worden war, so daß die Oberfläche des Armbands nicht mit der Umgebung in Berührung kommen konnte. »Bring es zu mir herüber«, befahl Mason. Die Fingerabdrücke von dem Armband abzunehmen wäre in der erkennungsdienstlichen Abteilung des Baltimore Police Department, wo der Techniker tagsüber arbeitete, sicherlich einfacher zu bewerkstelligen gewesen, aber Mason bezahlte eine außerordentlich hohe Summe bar auf die Hand und bestand im Gegenzug darauf, daß die Arbeit vor seinen Augen gemacht wurde. Oder vor seinem Auge, wie der Techniker leicht säuerlich im stillen für sich anmerkte, als er das Armband und den Schmuckständer auf einen chinesischen Teller stellte, der ihm von einem Bediensteten gereicht wurde. Der Diener hielt den Teller vor Masons Glotzauge. Er konnte ihn nicht auf dem über Masons Herz zusammengerollten Haarzopf abstellen, da das Atemgerät Masons Brust beständig auf und nieder bewegte. Das schwere Armband war blutverkrustet, Flocken getrockneten Blutes platzten ab und fielen auf den Teller. Mason betrachtete das Armband eingehend mit seinem Glotzauge. In Ermangelung von Fleisch blieb sein Gesicht ohne Ausdruck. Dafür leuchtete sein eines Auge um so mehr. »Beginnen Sie«, sagte er. Der Techniker hatte eine Kopie der Vorderseite von Dr. Lecters FBI-Karte. Der sechste Finger auf der Rückseite und die Identifizierungsmarken waren nicht reproduziert worden. Er bestäubte die freien Flächen zwischen den Verkrustungen. Das Fingerabdruck-Pulver »Drachenblut«, das er ansonsten bevorzugte, war vom Farbton her dem getrockneten Blut auf dem Armband zu ähnlich. Deshalb wich er auf schwarzes Pulver aus, das er mit großer Sorgfalt auftrug. »Wir haben Fingerabdrücke«, sagte er und hörte unter den heißen Lichtstrahlern der Sitzgruppe auf, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Die Lichtverhältnisse waren ausreichend zum Fotografieren. Also schoß er Fotos von den Fingerabdrücken in situ, bevor er sie für einen Vergleich unter dem Mikroskop abnahm. »Mittelfinger und Daumen der linken Hand, Übereinstimmung in sechzehn Punkten - das hätte vor Gericht Bestand«, sagte er schließlich. »Keine Frage, das ist ein und derselbe Kerl.« Mason war an keinem Prozeß interessiert. Seine bleiche Hand tastete sich bereits über die Tagesdecke zum Telefon.
KAPITEL 31
Ein sonniger Morgen auf einer Bergwiese tief in den Gennargentu Bergen von Zentralsardinien. Sechs Männer, vier Sarden und zwei Römer, arbeiten unterhalb einer zugigen, aus dem Holz der umliegenden Wälder errichteten Hütte. Die wenigen Geräusche, die sie machen, scheinen durch die ungeheure Stille der Berge verstärkt. Unter dem Hüttendach hängt an Balken, von denen noch immer die Rinde abfällt, ein riesiger Spiegel in einem
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