Hannibal
vergoldeten Rokoko-Rahmen. Der Spiegel ist über einem stabilen Pferch mit zwei Gattern aufgehängt, von denen sich das eine auf die Wiese hin öffnet. Das andere Gatter ist in der Mitte geteilt, so daß sich die obere und untere Hälfte getrennt öffnen lassen. Der Boden darunter ist betoniert, doch der Rest des Pferchs wie bei einem Blutgerüst mit frischem Stroh bestreut. Der Spiegel mit seinen geschnitzten Cherubinen im Rahmen läßt sich schwenken und bietet wie ein Spiegel, der bei einem Kochkurs über dem Herd den Schülern den Blick auf die Herdplatten gestattet, eine Draufsicht auf den Pferch. Der Filmemacher Oreste Pini und Mason Vergers sardischer Vorarbeiter, ein professioneller Kidnapper namens Carlo, konnten sich von Anfang an nicht ausstehen. Carlo Deogracias war ein stämmiger, kerngesunder Mann mit Tirolerhut und
Wildschweinborsten im Hutband. Er hatte die Angewohnheit, den Knorpel von einem Paar Hirschzähne abzukauen, die er in seiner Westentasche bei sich trug. Carlo war einer der führenden Vertreter eines uralten sardischen Berufsstandes. Er war von Haus aus Kidnapper mit dem Spezialgebiet Racheakte. Wenn man wegen Lösegeld entführt worden ist, erzählen reiche Italiener, ist es besser, in die Hände der Sarden zu fallen. Wenigstens ist man bei denen sicher, nicht durch Zufall oder in einem Anfall von Panik umgelegt zu werden. Zahlt deine Familie, kehrst du in der Regel unverletzt, nicht vergewaltigt oder verstümmelt zu den Deinen zurück. Sollte sie jedoch nicht zahlen, dürfte sie damit rechnen, dich
häppchenweise per Post zugestellt zu bekommen. Carlo war nicht gerade erfreut über Mason Vergers detaillierte Anweisungen. Er besaß genügend Erfahrung und hatte tatsächlich vor zwanzig Jahren in der Toskana schon einmal einen Mann Schweinen zum Fraß vorgeworfen - einen pensionierten Nazi und vorgeblichen Grafen, der toskanische Dorfkinder, Jungen und Mädchen in gleicher Weise, sexuell genötigt hatte. Man hatte Carlo eigens für diesen Job angeheuert. Er hatte den Mann aus dessen eigenen Garten keine drei Meilen von der Badia di Passignano entführt und an fünf riesige Hausschweine auf einem Bauernhof unterhalb des Poggio alle Corti verfüttert. Obwohl er den Schweinen drei Tage lang jegliche Nahrung vorenthalten hatte und der Nazi an seinen Fesseln zerrte, um Gnade winselte und schwitzte, zeigten sich die Schweine wenig geneigt, mit dem Verspeisen seiner Zehen anzufangen, bis Carlo, von leichten Gewissensbissen geplagt, da er die
Vertragsvereinbarungen brach, den Nazi mit einem schmackhaften Salat aus den Lieblingsgemüsen der Schweine fütterte und ihm die Kehle durchschnitt, um ihnen entgegenzukommen. Carlo war ein fröhlicher und energischer Mann, aber die Gegenwart des Filmemachers ärgerte ihn - Carlo hatte auf Anweisung von Mason Verger den Spiegel aus einem Bordell geholt, das er in Cagliari unterhielt, nur um diesem Pornofilmer Oreste Pini einen Gefallen zu tun. Der Spiegel war ein Segen für Oreste, der in seinen Pornofilmen und dem einen Snuff-Film, den er in Mauretanien gedreht hatte, immer wieder gern auf Spiegel zurückgriff. Inspiriert durch die Warnung auf dem Außenspiegel seines Autos, war er zu einem Vorkämpfer auf dem Gebiet verzerrter Spiegelbilder geworden, die manche Objekte größer erscheinen ließen, als sie sich dem unbedarften Auge darboten. Wie von Mason Verger vorgeschrieben, mußte Oreste zwei Kameras aufbauen und die Szene beim erstenmal im Kasten haben. Mason verlangte unter anderem einen ungeschnittenen Close-up von Lecters Gesicht. Für Carlo schien er endlos lange herumzutrödeln. »Du kannst mich entweder wie eine Frau zuquatschen oder einem Probelauf zuschauen und mich mit all dem löchern, was du schon immer wissen wolltest, dich aber nie zu fragen getraut hast.« »Ich will den Probelauf filmen.« »Va bene. Bau deinen Scheiß auf, und laß uns loslegen.« Während Oreste seine Kameras aufstellte, traf Carlo mit seinen drei wortkargen sardischen Helfern die entsprechenden Vorkehrungen. Oreste, der bei Geld keine Scham kannte, war doch immer wieder aufs neue darüber erstaunt, was man für Geld alles kaufen konnte. Auf einem langen Zeichentisch an der einen Wand der Hütte schnürte Carlos Bruder Matteo ein Bündel mit getragener Kleidung auf. Er fischte nach einem Hemd und einer Hose, während die beiden anderen Sarden, die Brüder Piero und Tommaso Falcione, langsam eine verschmutzte und zerbeulte Krankenbahre über die Wiese in die Hütte
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