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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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Fleischfetzen. Er versuchte seine Schwester zu quälen. Aber Margot zog sich in ihr Fitneßstudio zurück und ignorierte über Stunden hinweg seine Anrufe. Sie war die einzige Person auf der Muskrat Farm, die es wagen konnte, Mason zu ignorieren. Eine kurze, immer wieder umgeschnittene Sequenz aus einem Touristen-Video, auf dem der Tod von Rinaldo Pazzi zu sehen war, lief am Samstagabend in den Nachrichten, noch ehe Dr. Lecter als der Mörder identifiziert worden war. Mit Weichzeichner bearbeitete Bildpartien ersparten den Zuschauern die anatomischen Details. Masons Sekretärin hängte sich sofort ans Telefon, um das Originalband zu organisieren. Keine vier Stunden später traf es per Helikopter ein. Das Videotape war von seltsamer Provenienz: Von den beiden Touristen, die den Palazzo Vecchio zum Zeitpunkt von Rinaldo Pazzis Tod gerade filmten, brach der eine in Panik aus und schwenkte die Kamera im Augenblick des Sturzes zur Seite. Der andere, ein Schweizer, hielt während der gesamten Episode unbeirrt drauf, schwenkte sogar auf das schwingende und zuckende Kabel hoch. Der Amateurfilmer, ein praktisch veranlagter Angestellter namens Viggert, fürchtete, die Polizei könnte seinen Film beschlagnahmen und das italienische Fernsehen RAI ihn somit umsonst bekommen. Er rief sofort seinen Anwalt in Lausanne an, leitete alles Notwendige in die Wege, um sich das Copyright auf die Bilder zu sichern, und verkaufte die Fernsehrechte in einer spektakulären Auktion an ABC. Die nordamerikanischen Abdruckrechte gingen an die New York Post, gefolgt vom National Tattler. Das Video wurde sofort zu einem Klassiker des Horrorspektakels Zapruder, das Attentat von Lee Harvey Oswald und der Selbstmord von Edgar Böiger -, aber Viggert sollte es noch bitter bereuen, das Band so früh verkauft zu haben, noch bevor man Dr. Lecter des Verbrechens überführte. Diese Kopie des Viggertschen Urlaubsvideos war ungekürzt. Wir sehen die Schweizer Familie Viggert, Stunden vor den Ereignissen im Palazzo Vecchio, in der Galleria dell’ Accademia pflichtschuldigst das Gemächt von Michelangelos »David« umkreisen. Mason, der sich das Video mit dem ihm verbliebenen Glotzauge ansah, hatte wenig Interesse an dem kostspieligen Stück Fleisch, das am Ende des Elektrokabels baumelte. Der kleine Exkurs in die Geschichte, den La Nazione und Corriere della Sera über die beiden Pazzis eingerückt hatte, die vor fünfhundertzwanzig Jahren am selben Fenster gehangen hatten, ließ ihn kalt. Was ihn vielmehr fesselte, was er sich wieder und wieder ansah, war der Kameraschwenk zum Balkon hoch, wo sich vor dem schwachen Licht des Salons die verschwommene Silhouette einer winkenden Gestalt abzeichnete. Einer Gestalt, die ihm, Mason, zuwinkte. Dr. Lecter winkte Mason mit einer aus dem Handgelenk kommenden Geste zu, so wie man sich von Kindern mit einem »Bye-bye« winkend verabschiedet. »Bye-bye«, antwortete Mason aus seiner Dunkelheit. »Bye-bye«, die sonore Stimme zitternd vor Wut.

KAPITEL 42
    Die Identifizierung von Dr. Hannibal Lecter als dem Mörder von Rinaldo Pazzi gab Clarice Starling etwas Ernsthaftes zu tun, dem Himmel sei Dank. Sie wurde auf der untersten Ebene de facto zum Bindeglied zwischen dem FBI und den italienischen Behörden. Es tat gut, sich wieder mit voller Kraft einer Aufgabe zu widmen. Starlings Welt hatte sich seit der Schießerei verändert. Sie und die anderen Überlebenden des Feliciana-Fischmarkt-Desasters waren wegen des beim Justizministerium anhängigen Reports, der an den Rechtsausschuß des Repräsentantenhauses gehen sollte, kaltgestellt worden. Nachdem sie Lecters Röntgenbild gefunden hatte, trat Starling mehr oder weniger als hochqualifizierte Lückenbüßerin auf der Stelle. Die National Police Academy hatte sie als Vertretung für Ausbilder eingesetzt, die erkrankt oder in Urlaub waren. Im Herbst und während des ganzen Winters war Washington geradezu besessen von einem Skandal im Weißen Haus. Die vor Wut schäumenden Reformisten versprühten mehr Spucke, als diese traurige, kleine Sünde es getan hatte. Und der Präsident der Vereinigten Staaten schluckte öffentlich mehr als die ihm zustehende Portion Dreck, um einer Amtsenthebung zu entgehen. In diesem Zirkus wurde der kleine Zwischenfall auf dem Feliciana Fischmarkt zur Seite geschoben. Mit jedem Tag, der verstrich, wuchs in Starling eine bittere Erkenntnis: Der Staatsdienst würde nie wieder derselbe für sie sein. Sie war gezeichnet. Ihren Kollegen stand die

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