Hannibal
Sie stellt eine eindrucksvolle Erscheinung dar und machte ihrem Namen alle Ehre, als ein Artileriegeschoß 1942 die Kirche traf. Die Rüstung, auf deren Schultergliedern eine dicke Staubschicht lagert, blickt auf das Allerheiligste hinunter, wo gerade eine Messe zu Ende geht. Weihrauchschwaden steigen auf und streichen durch das leere Visier. Nur drei Menschen nehmen am Gottesdienst teil, zwei ältere Frauen, beide ganz in Schwarz gekleidet, und Dr. Hannibal Lecter. Alle drei empfangen sie die heilige Kommunion. Dr. Lecter legt mit leichtem Widerwillen seine Lippen an den Kelch. Der Priester beendet das Dankgebet und zieht sich zurück. Die Frauen verlassen die Kirche. Dr. Lecter fährt in seiner Andacht fort, bis er vor dem Allerheiligsten allein ist. Vom Chor aus kann Dr. Lecter über das Geländer fassen und, über die Hörner gebeugt, das staubige Visier des Helms öffnen. Innen, am Rand der Halsbeuge, ist ein Angelhaken befestigt, an dem eine Schnur hängt. Vorsichtig zieht Dr. Lecter sie zu sich heran. An ihrem Ende baumelt ein Päckchen. Der Inhalt: Pässe bester brasilianischer Qualität, Sozialversicherungsausweise, Bargeld, Kontobücher und Schlüssel. Er öffnet seinen Mantel und klemmt sich das Päckchen unter den Arm. Dr. Lecter gab sich selten dem Gefühl des Bedauerns hin, aber es tat ihm leid, Italien verlassen zu müssen. Es gab im Palazzo Capponi noch so vieles, dem er gerne nachgegangen wäre, was er gerne gelesen hätte. Das Klavier, er hätte es nur zu gern weitergespielt, vielleicht auch das eine oder andere auf ihm komponiert; vielleicht hätte er auch für die Witwe Pazzi gekocht, wenn diese erst einmal ihren Kummer überwunden hätte.
KAPITEL 39
Noch während das Blut von Rinaldo Pazzis hängendem Leichnam auf die heißen Flutlichter am Fuß des Palazzo Vecchio tropfte und dort aufsprudelnd verdampfte, verständigte die Polizei die Feuerwehr, um ihn herunterholen zu lassen. Die pompieri fuhren die Verlängerung an ihrer Feuerwehrleiter aus. Praktisch veranlagt, wie sie waren, und sicher, daß der Gehängte bereits tot war, ließen sie sich Zeit mit der Abnahme von Pazzi. Das war ein delikates Unterfangen, mußten sie doch die im Wind baumelnden Eingeweide erst zurück in die Bauchhöhle stopfen und dann die ganze Masse in ein Netz packen, bevor sie eine Leine befestigen und ihn langsam abseilen konnten. Als der Körper die ausgestreckten Arme der Einsatzkräfte am Boden berührte, gelang dem Bildreporter von La Nazione ein exquisites Foto, das viele Leser an Bilder der Kreuzabnahme erinnerte. Die Polizei beließ den Strang zunächst an Ort und Stelle, bis Fingerabdrücke abgenommen waren. Danach wurde das Elektrokabel in der Mitte durchtrennt, weil man den Knoten möglichst unversehrt sicherstellen wollte. Viele Florentiner waren fest entschlossen, Rinaldo Pazzis Tod als spektakulären Selbstmord zu betrachten. Sie entschieden sich dafür, daß er sich selbst die Hände gebunden hatte, wie sie das aus Berichten über Selbstmorde im Gefängnis kannten, und ignorierten dabei den Umstand, daß er auch an den Füßen gefesselt war. In der ersten Stunde nach dem Tod berichteten die lokalen Radiostationen, daß Pazzi, als wäre ihm das bloße Erhängen nicht genug gewesen, zusätzlich mit einem Messer Harakiri begangen habe. Die Polizei wußte es von Anfang an besser - die zertrennten Fesseln neben der Sackkarre auf dem Balkon, Pazzis verschwundene Dienstwaffe, Augenzeugenberichte über den in den Palazzo rennenden Carlo und die blutige, in ein Leintuch gehüllte Gestalt, die hinter dem Palazzo Vecchio umhergeirrt war, sprachen eine deutlich andere Sprache. Pazzi war ermordet worden. Bald darauf beschloß die italienische Öffentlichkeit, daß Il Mostro Pazzi ermordet hatte. Die Questura begann mit dem unglückseligen Girolamo Tocca, der schon einmal als Il Mostro verurteilt worden war. Sie verhafteten ihn in seinem Haus und führten ihn wieder unter den Augen seiner Zeter und Mordio schreienden Frau ab. Sein Alibi war wasserdicht. Er hatte zum Zeitpunkt des Verbrechens unter den Augen eines Priesters in einem Cafe Ramazzotti getrunken. Tocca wurde in Florenz auf freien Fuß gesetzt und mußte auf eigene Kosten mit dem Bus nach San Casciano zurückfahren. Das Personal des Palazzo Vecchio wurde bereits in den ersten Stunden verhört. Rasch dehnte sich die Befragung auf die Mitglieder der Studiolo aus. Der Polizei war es unmöglich, den Aufenthaltsort von Dr. Fell festzustellen. Am Samstag, um die
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