Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hans Heinz Ewers

Hans Heinz Ewers

Titel: Hans Heinz Ewers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geschichten des Grauens
Vom Netzwerk:
Namen derer, die sie begraben hatten den Tag über; wiederholten sie beim Abendessen, wie ein Zeichen für die tüchtige Arbeit, die man geschafft hatte. Dann vergaß man sie wieder.
    „Orlando Sgambi, 58 Jahre; Jan Srba, 22 Jahre; Ferencz Kovacz, 60 Jahre –“, sagte Jan Olieslagers.
    Stephe nickte: „Anka Savicz, 19 Jahre; Alessandro Venturini, 78 Jahre, Ossip Si –“
    „Ja, ja!“ brummte Stephe und goß den Tee auf. „Elf heute, elf.“
    Der Vlame fühlte die Arbeit in allen Knochen. Er hatte wenig geschlafen in dieser letzten Woche, nun war er müde zum Umfallen.
    „Wollen wir noch ein wenig auf unserer Bank sitzen?“ fragte Stephe.
    „Nein!“ antwortete er. „Ich will zu Bett.“
    „Gut!“ sagte Stephe. „Ich auch.“
    Sie zogen sich aus. Olieslagers sah Stephe noch herumarbeiten, die Kleider bürsten, die Stiefel reinigen. Dann legte auch er sich nieder; der Vlame hörte seine stillen Atemzüge, schließlich, wie stets, ein leises Flüstern im Schlaf.
    Und er schlief selbst ein, sehr fest.
    Mitten in der Nacht wurde er wach. Er hörte etwas – lauschte auf, rieb sich mühsam den Schlaf aus den Augen. Etwas sprach. Er hörte hin zu Stephes Bett – nein, es kam nicht daher. Nichts wieder – dann, plötzlich, zwei, drei abgerissene Worte. Nebenan, aus dem Beinhause. Und es war Stephes Stimme, die sprach. Er riß die Decken fort, warf die Beine heraus, saß auf der Bettkante. Nun Schritte daneben, ein Schlurfen und Schleifen. Und noch einmal ein helles Wort von Stephe –
    Was sagte der nur?
    Dann ging die Tür des Beinhauses – er hörte draußen die Schritte. Im Nu war er auf, lief ans Fenster, riß es auf. Da sah er, durch die Sommernacht, Stephe schreiten. Der trug ein Schweres in seinen Armen, eingehüllt in weiße Laken – ah, eine Frau!
    Und Jan Olieslagers begriff, im Zehntel der Sekunde –
    „Anka Savicz“, murmelte er, „19 Jahre. Anka Savicz –“
    Er preßte das Fensterkreuz mit beiden Händen, festgebannt. Er fühlte die Kühle der Nacht auf dem bettwarmen Leibe, schauerte, klapperte mit den Zähnen. Lauschte hinaus.
    Endlich wieder – Stephes Schritte. Er wandte sich halb um, aber Stephe kam noch nicht – die Schritte gingen herum um das Beinhaus. Dann ein Heben und Knirschen – der Schwengel der alten Pumpe. Und das Wasser, das hell in den Eimer sprang.
    Ein Reiben und Bürsten. Wasserplätschern.
    Und wieder Schritte. Nun öffnete sich die Türe des Beinhauses – nun schloß sie sich. Drei Schritte – und die Türe ging auf.
    Er sah Stephe nicht, erkannte nichts in der Dunkelheit.
    „Anka Savicz –“, flüsterte er. „Wo ist sie?“
    Aus der Finsternis sprach es: „Zu Hause.“
    Er verstand es gut. Zu Hause – bei sich – im Sarg – und im Grabe –
    Er antwortete nicht. Er ging zu Bett, grub den Kopf in die Kissen, zog die Decke hoch. Seine Schläfen trommelten, und seine Lippen zuckten. Dann biß er die Zähne zusammen. Schlafen, dachte er, schlafen, schlafen!
     
    Stephe begriff, daß er nun sprechen müsse. Doch geschah das nicht, weder am nächsten noch am übernächsten Tage; dennoch schien es dem Vlamen, als ob er nur warte, ja, darum bitte, gefragt zu werden. Aber er fragte ihn nicht. Er schenkte ihm ein paar seidene Halsbinden, einen Ledergürtel, ein schönes Messer, allerhand Kleinigkeiten, die Stephes Augen strahlen machten. Er saß mit ihm auf der Bank, am Abend nach der Arbeit, erzählte ihm lange Geschichten – es war, als ob sein Freund, verschlossen durch so viele Jahre, nun langsam lerne, zuzuhören. Und endlich – selbst zu sprechen.
    Dann, als Stephe zu erzählen begann, war es schwer und unendlich mühsam. Was Jan Olieslagers später auf wenigen Seiten niederschrieb, war das Ergebnis langer Wochen. Stephe mangelte völlig jedes Empfinden für Zusammenhänge – und die einfachsten Zwischenfragen, die ihm der Vlame stellte, verwirrten ihn oft so, daß er nicht imstande war, den Faden wieder aufzunehmen. Obwohl sich das Phänomen seines Seelenlebens ganz folgerichtig entwickelt hatte – begriff doch Stephe von dieser ganzen Entwicklung kein bißchen.
    Er stand da nicht etwa vor einem merkwürdigen Rätsel: Das allein schien ihm ganz natürlich und als das allein Verständliche und Richtige. Aber er hatte kein leisestes Gefühl für Ursache. und Wirkung, vermochte oft kaum das, was wirklich geschehen war und was er nur in seinem Hirn erlebt hatte, auseinanderzuhalten. Dazu kam, daß manche ganz nebensächlichen Vorgänge sich in seinem

Weitere Kostenlose Bücher