Hansetochter
schwante Henrike, dass sie sich wünschten, einmal selbst zu den Ratsangehörigen zu zählen.Nun, da Konrad Vresdorp nicht mehr lebte, wäre dies ja auch tatsächlich möglich, denn zwei Brüder wären zur gleichen Zeit nicht im Rat geduldet worden.
Henrike stand zwischen den Wartenden vor der Marienkirche und hörte ihren hitzigen Gesprächen zu. Gerade die Handwerker beschwerten sich über die Belastung durch Steuern und Zölle. Auch der Kaiserbesuch im letzten Jahr hatte die Stadtkasse über Gebühr beansprucht, was letztlich die einfachen Leute ausgleichen müssten, schimpften sie.
Als der neue Rat an den Bürgern vorbei in die Kirche schritt, sah sie auch Adrian Vanderen in der Menge, an seiner Seite Mechthild Diercksen sowie deren Tochter Drudeke. Dass Bruno Diercksen doch nicht zum Bürgermeister aufrücken würde, war eine der Überraschungen dieser Wahl gewesen. Trotzdem trugen Mechthild und Drudeke Diercksen derart prächtige Gewänder, als gehörten sie schon zu den Bürgermeisterfamilien.
Onkel Hartwig hatte allerdings gemeint, diese Wahl sei nur aufgeschoben. Die ungeklärte dänische Thronfolge und die Gefahr eines Krieges erfordere eben beweglichere Bürgermeister. Unnachgiebig kämpften die Waldemarstöchter Ingeborg und Margarethe für ihre Söhne um den Thron. Je länger der Streit andauerte, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass eine Seite zu den Waffen greifen würde, um ihre Interessen durchzusetzen.
Die Bürger drängten in die Kirche, unter dem Läuten der Glocken beobachtete Henrike, wie die hohen Herren im Ratsgestühl Platz nahmen. Gerhard Dartzow war jetzt, wie es ihr Vater vorausgesehen hatte, in den Kreis der Ratsmannen aufgerückt. Erhebende Orgelmusik prägte den Gottesdienst, der damit endete, dass der neue Rat in einer Prozession zum Rathaus schritt. Die Ratsmitglieder würden später kräftig feiern, aber auch die Bürger waren schon in Feierlaune, stand doch Fastnacht unmittelbar bevor. Henrike und Simon würden die Festivitäten jedochauslassen. Es war schließlich erst vier Monate her, dass ihr Vater gestorben war.
Vor der Kirche genossen die Bürger die Frühlingsluft, plauderten in der Hoffnung, dass auch der neue Rat die Geschicke der Stadt zu ihrem Besten leiten würde. Telse sprach einige Worte mit Drudeke, während Mechthild Diercksen Adrian Vanderen etwas zuflüsterte. Die beiden wirkten auf Henrike sehr vertraut, was ihr einen leichten Stich versetzte. Als Frau Diercksen sich ihrer Tochter zuwandte und der Kaufmann einen Augenblick allein dastand, schlug Simon vor, Vanderen auf einige Eintragungen in Vaters Handelsbuch anzusprechen. Henrike zögerte, aber ihr Bruder ging schon auf ihn zu und sprach ihn auf ihr Anliegen an. Adrian Vanderen hatte nichts dagegen und lud sie ein, ihn in seinem neuen Haus zu besuchen.
»Ich habe nichts zu verbergen«, sagte er und warf Henrike einen intensiven Blick zu.
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Drei Fässer Heringe, zwei Fässer Wein und vier Packen Juchtenleder. Henrike notierte in einem Wachstafelbüchlein, welche Waren sich noch im hinteren Keller befanden. Sie hatte ihrer Tante gesagt, sie werde die Aufräumarbeiten fortführen, und das tat sie gewissermaßen ja auch. Das kurze Gespräch mit Adrian Vanderen an der Marienkirche war einige Tage her, und sie wusste noch immer nicht, ob es richtig gewesen war, ihn anzusprechen. Bei der Vorstellung, ihn in seinem Haus zu besuchen, schlug ihr Herz schneller. Sicher würde er Einiges erklären können. Aber sein Blick hatte ihr auch gezeigt, dass er ihre Anschuldigungen nicht vergessen hatte.
Ein Geräusch ließ sie innehalten. Schritte. Dabei war der Kaufkeller doch schon geschlossen! Sie hörte Stimmen näher kommen. Flugs feuchtete sie ihre Finger an und löschte das Licht.Wer war das? Ihr Onkel Hartwig und ... Jost? Nein, es war – Nikolas! Panik brandete tief in ihrem Inneren auf. Nikolas, diese Heimsuchung! Sie verkroch sich zwischen den Säcken. Drängte sich an die Wand, wie ein Schutz suchendes Tier. Hörte das Schrammen von Fässern auf dem Boden, dann wieder Stimmen.
»Was tust du schon hier? Hast du wirklich alles erledigt? Ist die Gefahr gebannt?« Hartwig Vresdorp, lallend.
Sein Gegenüber antwortete mit einem verächtlichen Schnauben. »Natürlich, Vater. Was denkst du denn? Alles erledigt. Keiner wird etwas herausfinden.«
Wovon sprachen sie bloß?
»Den Böttcher habe ich eingewickelt. Der freut sich schon auf Telse, seine junge Braut.«
Telse, oh Gott! Mitleid
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