Hansetochter
sie Musik und Gelächter. Die Fastnachtsfeiern samt Mummenschanz waren in vollem Gange, ein Spektakel für das ganze Volk. Nur ihnen beiden war in diesem Jahr nicht nach Feiern zumute.
Die Geschwister hatten das Haus mit den hochaufragenden Treppengiebeln erreicht. Der Kaufkeller war geöffnet. Ein schmaler junger Mann begrüßte sie und führte sie in den hinteren Teil des Kellers. Dort schaufelte Jost gerade Getreide aus großen in kleine Säcke. Er bemerkte sie, arbeitete jedoch unbeirrt weiter. Jost war unrasiert. Seine Wangen wirkten durch den Bartwuchs verschattet. Kaum sah er Henrike an. Nur zu verständlich, fand Henrike, er musste wütend auf sie sein.
»Es tut mir sehr leid. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen«, sagte sie und suchte seinen Blick, doch Jost hielt noch immer nicht inne.
Seine Bewegungen waren ruckartig und schnell, voller unterdrückter Wut. Staub wirbelte auf, tanzte im fahlen Licht, das durch kleine Schlitze in den Keller fiel. Die ganze Schwere ihrer Schuld lastete auf Henrike, als sie sagte: »Wir haben noch einmal versucht, unseren Onkel umzustimmen, aber sein Entschluss scheint festzustehen.«
Simon mischte sich jetzt ein. »Wir wollten dir für alles danken, was du für uns getan hast. Und uns für das Verhalten unserer Verwandten entschuldigen«, sagte er und setzte hinzu: »Wenn ich erst ein richtiger Kaufmann bin, dann hole ich dich in meinen Dienst zurück!«
Die Naivität ihres Bruders brachte Henrike trotz ihrer Schuldgefühle zum Lächeln.
»Aber dann ist Jost doch längst selbst ein Kaufmann!«, meinte sie vorsichtig.
Nachdenklich wickelte Simon eine Haarsträhne aus seinem dunklen Schopf um die Finger, dann grinste er.
»Stimmt. Dann treiben wir eben Handel zusammen. Als Partner!«, beschloss der Junge.
Jost hielt inne, stemmte schwer atmend die Faust in die Seite. »Das würde ich gern, Simon. Aber das wird nun noch viel länger dauern, als ich befürchtet hatte.«
»Hast du von Onkel Hartwig denn nicht das Geld bekommen, das Vater dir vermacht hat?«, wollte ihr Bruder wissen.
Jost schüttelte den Kopf: »Da ich mich unehrlich verhalten habe, stünde es mir nicht zu, meinte Herr Nikolas.« Henrike und Simon waren aufgebracht. Sie berieten darüber, was sie tun konnten. Sie hätten mit den Testamentsverwaltern sprechen können oder mit ihrem zweiten Vormund Symon Swerting, aber das wäre vermutlich langwierig, auch war es nicht sicher, dass Hartwig Vresdorp das Geld dann herausrücken würde.
Doch Jost winkte ohnehin ab. »Lasst nur. Ich möchte euren Onkel nicht noch mehr gegen mich aufbringen. Wenn Hartwig Vresdorp es will, kann er meinen Ruf ruinieren, und damit wäre mir nicht geholfen.« Er warf den Scheffel in einem weiten Bogen in den Sack. Langsam strich er über seinen Nacken und ließ sich gegen einen Ballen sinken. »Außerdem stimmt es, ich war unehrlich«, sagte er.
Henrike konnte es kaum aushalten, ihn so zu sehen. Was redete er da? Sie hatte ihn doch gebeten, die Anweisungen ihres Vetters zu missachten und unehrlich zu sein.
»Nein, es ist meine Schuld. Ich habe dich gebeten, das Wachs ...«, begann sie.
»Das ist es nicht allein, Jungfer Henrike.« Jost rieb über die Bartstoppeln auf seinen geröteten Wangen. Er machte einen zerknirschten Eindruck. »Ich habe an dem Abend, als der selige Herr Vresdorp tot aufgefunden wurde, etwas aus seiner Brieflade entfernt«, sagte er und zog einen Brief aus seinem Hosenbund.
Henrike erkannte das Siegel wieder. Einen ähnlichen Brief – oder war es dieser? – hatte sie einmal am Hafen von ihrem Vater in Empfang genommen. Sie faltete ihn auseinander und beugte sich gemeinsam mit Simon darüber. Was sie lasen, versetzte sie in Erregung: Ein Kaufmannskollege hatte ihrem Vater geschrieben, dass Hartwig Vresdorp ein Betrüger war. Aber wen hatte er betrogen? Und wie? Gab es dafür Beweise? War es das, worüber ihr Vater und sein Bruder gestritten hatten?
»Ich wollte nicht, dass dieser Brief Hartwig Vresdorp in die Hände fällt. Nehmt ihn an Euch, er könnte einmal wichtig sein«, sagte Jost.
Warum hatte er ihn so lange zurückgehalten? Etwa aus Loyalität seinem neuen Herrn gegenüber? Simon legte den Brief zusammen und wollte ihn einstecken, reichte ihn dann jedoch Henrike.
»Bei dir ist er sicherer, wenn ich in Bergen bin. Gib gut darauf acht.«
Henrike schob ihn in ihren Ausschnitt und nahm ihren Mantel auf. Es war Zeit, zu gehen. Als ihr Blick auf ihren Tasselmantel fiel, kam
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