Hansetochter
Nur weg von den anderen, die sich einen grausamen Spaß mit den Neuankömmlingen machten.
~~~
Er hatte kaum geschlafen, da wurde die Klappe der Koje schon wieder aufgerissen.
»Aufstehen, die Arbeit wartet!«
Simon quälte sich aus der Luke, alles tat ihm weh. Noch am Abend hatte er seine Wunden und die von Claas gereinigt, doch er hatte weder Salben noch Laken gehabt, um sie zu versorgen. Er bückte sich zu dem Jungen, der nicht reagiert hatte, rüttelte an dessen Schulter, spürte etwas Feuchtes. Simon hielt die Hand in den Schein der Fackel – Blut! Er holte Claas vorsichtig aus der Koje, legte ihn auf die Bohlen. Das Hemd des Jungen war über und über rot. Simon rief nach Hilfe. Tatsächlich kam der Gesellenobmann wenig später und versorgte Claas.
Dennoch überfiel Simon Zorn. »Wie könnt Ihr nur mitansehen, dass man ein Kind so behandelt! Seid Ihr nicht für unser Wohlergehen verantwortlich?«, entfuhr es ihm.
Der Gesellenobmann gab ihm eine kräftige Ohrfeige. »Wenn ihr das erste Spiel überstanden habt, werdet ihr die anderen auch überstehen«, sagte Otte ruhig und hob Claas in die Koje zurück.
Simon sank der Mut. Es würde also weitere grausame Spiele geben.
»Und nun geh, Helmold wird dir zeigen, wo ihr die Kähne mit den Abfällen abladen könnt.«
~~~
Ein grauer Schleier überzog die Pfahlbauten. Die felsigen Berge über der Stadt waren in den dichten Wolken verschwunden. Niesel schlug Simon ins Gesicht. Langsam ließ er das Ruder in das Wasser gleiten, jede Bewegung tat weh. Dennoch war er lieber hier an der frischen Luft als im Hof, wo er sich die schadenfrohen Bemerkungen der anderen Bewohner oder Nikolas’ Sticheleien über den gestrigen Abend anhören musste. Sein Vetter hatte heute seine Hilfe nicht in Anspruch genommen, obgleich sie doch mit ihren Waren Handel treiben wollten. Ob er wohl wieder zu Ellin ging, wo er ihn eindeutig nicht dabei haben wollte?
»Hast dich tapfer geschlagen, gestern«, meinte Helmold, der sich als der nette blonde Junge herausgestellt hatte. »Besser als dieser Vicus, der sich zum Gespött gemacht hat. Er wird es nicht leicht haben bei den nächsten Spielen.«
Simon wischte sich das Nass aus dem Gesicht. »Kommen denn noch viele?«, fragte er bedrückt.
»Oh ja. Das Wasserspiel. Das Borg- oder Staupspiel. Das Beichtspiel. Manchmal auch das Barbierspiel. Dabei wird das Gesicht mit dem Unrat von Katzen oder Hunden bestrichenund mit einem hölzernen Messer wieder freigekratzt«, meinte Helmold.
Simons Magen krampfte. Konnte er nicht einfach von hier verschwinden? Und Claas, wie sollte er nur diese Tortur durchstehen?
»Hast du ... alle diese Spiele ... überstanden?«
Helmold schüttelte den Kopf und strich sich die struppigen Haare aus der Stirn. Seine dunklen Augen blickten über das Wasser zum Horizont.
»Ich hatte Glück, viele Neulinge kamen direkt nach mir. Nicht mit jedem konnte jedes Spiel gemacht werden. Ich bin wohl auch keines der üblichen Opfer. Ich habe Familie in Bergen. Mein Vetter ist Bernhard Steding.«
Simon sah ihn überrascht an. »Wir sind zusammen gereist«, sagte er.
Helmold nickte. »Ich weiß, Bernhard hat’s mir erzählt. Genauso, wie er mir von der Beleidigung deines Vetters erzählt hat.« Er zog das Ruder durch das Wasser, sah den entstehenden Wellen hinterher.
Simon kaute zaghaft auf seiner Unterlippe. »Was hat Nikolas eigentlich gemeint mit einer Fri ...«
»Frille?« Es war, als ob Helmold das Wort in seinem Mund prüfte. »Eine Nebenfrau, wie jeder Pfaffe hier eine hat, von den Kaufleuten ganz zu schweigen. Manche halten sie für Dirnen, aber das sind die meisten nicht. Natürlich gibt es hier Huren. Die Øvregate hinter der Tyskebrygge ist voll von losen Frauen, zu denen Männer aus dem Königsgefolge genauso gehen wie Kaufleute oder Priester. Aber bei Bernhard ist es anders. Bernhards Vater trieb jahrzehntelang Handel mit Bergen. Bernhards Mutter Gudrid lebt hier, sie hatten einige gemeinsame Kinder. Sie waren wie ein normales Ehepaar, nur eben nicht verheiratet.«
Helmold ruderte weiter, auch Simon tauchte das Holz jetztwieder ein. Der Wind frischte auf, trieb den Gestank des Abfalls, den sie transportierten, über das Meer. Simon legte das Ruder über seine Knie, sah auf das Wasser hinaus.
»Diese Spiele lassen mir einfach keine Ruhe«, sagte er. »Warum machen die Gesellen das? Warum halten wir nicht einfach alle zusammen, ohne uns gegenseitig zu quälen?«
Helmold blickte ihn nachdenklich
Weitere Kostenlose Bücher