Hansetochter
den Handwerkervierteln überwogen noch Fachwerkbauten und Holzbuden.
Als sie sich dem Getöse des Marktplatzes näherten und vor ihnen unübersehbar die Flanke der Marienkirche aufragte, blieb Adrian Vanderen stehen. Aus den Bäckerbuden zog ihnen ein verführerischer Duft in die Nase. Der Kaufmann legte nun doch seinen Kopf in den Nacken und sah an den gewaltigen Zwillingstürmen empor, wie jeder es tat, der sie zum ersten Mal erblickte.
»Und das ist wohl der berühmte Lübecker Dom«, sagte er bewundernd.
»Genaugenommen ist es Sankt Marien, die Haupt-Pfarrkirche des Rates und der Bürger. Der Dom befindet sich auf der anderen Seite der Stadt. Er ist etwas kleiner als die Marienkirche, aber nicht minder beeindruckend«, gab Henrike höflich lächelnd zurück. Adrian Vanderen zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»So ist Lübeck mit prächtigen Bauwerken gesegnet«, stellte er fest. Simon trat von einem Fuß auf den anderen.
»Lübeck nennt man ja auch die Königin der Hanse«, warf er ein und bemühte sich, seiner Jungenstimme einen feierlichen Ton zu geben. Als er bemerkte, dass es eher kläglich gelang, zupfte er verlegen an der zu großen Mütze. »Wollen wir über den Markt gehen? Das Rathaus ansehen, Herr Vanderen?«
Adrian nickte. Sie gingen am Brunnen vorbei, wo einige Frauen im Plausch standen, die Krüge zu ihren Füßen abgestellt. Vor den Tischen der öffentlichen Schreiber im Kirchhof warteten die Menschen. Auch vor der Pforte der Marienkirche herrschte einungewohntes Gedränge. Frauen und Männer strömten zum Gebet, Bettler scharten sich um sie. Es war voller als sonst auf den Straßen, offenbar lockte der Kaiserbesuch zahlreiche Menschen aus der Umgebung an, denn die meisten waren wie Landvolk gekleidet. Adrian verteilte einige Münzen. Eine zahnlose Alte steckte ihr Geld ein und kramte in ihrem Gewand. Es war zerschlissen und verdreckt, doch sie zog eine Rose daraus hervor, die wundersamerweise so frisch wirkte, als hätte sie sie eben erst gepflückt. Der Kaufmann schnupperte daran. Mit einem zarten Lächeln reichte er sie an Henrike weiter.
»Eine späte Rose, aber umso willkommener. Wenn jemandem dieses Geschenk der Natur gebührt, dann Euch«, sagte er galant.
Henrikes Verlegenheit lähmte sie unversehens. Sie stotterte etwas und nahm die Blume an sich. Eben war er noch verletzt, und jetzt machte er ihr Komplimente? Was sollte sie nur darauf antworten? Sie spürte, wie die Hitze auf ihren Wangen brannte. Glücklicherweise ergriff er wieder das Wort.
»Kennt Ihr eigentlich die Geschichte von Laurins Rosengarten? Nicht? Vielleicht werde ich sie Euch eines Tages erzählen.«
Sie kannte viele Geschichten, nicht aber diese. Ob der Kaufmann die Zeit finden würde, diese Bemerkung wahr zu machen? Schweigend gingen sie auf die Krambuden am Marktrand zu. Die Menschenmenge war unüberschaubar. Schwatzende Marktbesucher, Träger und Händler prägten das Bild. Büttel strichen umher, einer hielt einen Mann gepackt und zerrte ihn fort.
»Der Besuch des Kaisers zieht auch Beutelschneider und anderes finsteres Volk an«, sagte Adrian düster. »Wir sollten direkt zum Hospital gehen. Ich werde mir die Marienkirche, den Markt und das Rathaus ein anderes Mal ansehen.« Simon wirkte enttäuscht, sagte jedoch nichts.
Sie schritten zwischen Marktplatz und der Flanke der Kirche entlang und bogen auf die Breite Straße ein. Männer schaufelten den Straßendreck auf Karren. Alte Fensterläden wurdenausgetauscht, blätternde Farbe überstrichen. An den Häusern lehnten Leitern, erste Fähnchen wurden angebracht. Auch die Stadt putzt sich für den hohen Besuch heraus, dachte Henrike belustigt. Auf dem verengten Weg mussten sich die Menschen aneinander vorbeischieben.
Nach einigen Minuten hatten sie den Koberg erreicht, einen der ältesten Teile der Stadt. Hier, in der Nähe des Burgtores, gab es zahlreiche vornehme Giebelhäuser. Zwischen ihnen, von Türmchen gekrönt, die wie Kerzen aus Backstein in den Himmel ragten, stand das Heiligen-Geist-Hospital.
»Ich danke Euch für das Geleit, aber nun geht zurück. Ich werde schon allein den Weg in die Alfstraße finden«, sagte er. Henrike drehte unschlüssig die Rose zwischen den Fingern. Sie sollte seinem Wunsch Folge leisten, wollte aber auch die Anweisungen ihres Vaters befolgen.
»Vater hat uns aufgetragen, Euch zu begleiten, und das werden wir tun, wenn Ihr erlaubt.«
»Es macht uns nichts aus, zu warten«, setzte Simon hinzu. Adrian Vanderen sah sie
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