Hansetochter
so schnell herumgesprochen? Das Gesicht des Geschäftsfreundes war von Sorgenfalten übersät, der traditionelle Begrüßungstrunk blieb unberührt. An der Seite seines alten Handelspartners standen ein Knabe und eine hübsche junge Frau. Adrian glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Sie trug unter ihrem Umhang ein Kleid, das eines Königsempfanges würdig gewesen wäre. Perlen säumten den Ausschnitt, die schmale Hüfte zierte ein edelsteinbesetzter Gürtel. Das Mädchen kam Adrian wie ein Traumbild vor. Ihm schwindelte. Fahrig strich er sich über die Stirn. Hatte er etwa Fieber?Seine Haut fühlte sich heißer als sonst an. Die Wunde in seiner Schulter pochte heftig, der Arm darunter kribbelte. Aber nein, die Hafenarbeiter starrten sie ebenso unverhohlen an wie er, sie war also kein Trugbild. Was tat sie hier? War sie etwa Konrad Vresdorps Tochter? Die junge Frau rannte davon, ohne ein Wort. Adrian hatte sich die Tochter des Lübecker Patriziers anders vorgestellt, gediegener, weniger ...
Doch er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Alle warteten auf ihn. Der Zollbeamte drängte darauf, dass sie mit dem Abladen beginnen würden. Da waren die anderen Kaufleute, die ihre Waren von Bord des Schiffes bringen lassen wollten und mit denen er abrechnen musste. Seinen Männern stand noch die letzte Rate ihrer Heuer zu. Außerdem musste er einige finden, die an Bord des Schiffes bleiben und es bewachen würden, solange es im Hafen war. Denn ein Gutteil seiner Waren würde er im bauchigen Rumpf der Kogge lassen; ein günstigeres Lagerhaus gab es nicht.
»Die Verletzten könnt Ihr ins Spital bringen lassen. Jost wird Euren Männern den Weg dahin zeigen«, wies Konrad Vresdorp seinen Gehilfen an. »Aber auch Ihr solltet unverzüglich einen Medicus aufsuchen, Adrian, gode Fründ.« Der Lübecker Kaufmann wollte ihm in einer vertrauten Geste die Hand auf den Arm legen, bemerkte jedoch gerade noch rechtzeitig das Blut auf dem Gelenk. Adrians Schulter hatte wieder zu nässen begonnen.
»Habt Dank für Eure Besorgnis, aber Ihr ahnt ja sicher, dass ich Eurem Rat nicht folgen kann. Noch nicht zumindest«, sagte Adrian – so höflich er es in diesem Zustand vermochte – und rief den Hafenarbeitern etwas zu. Das Abladen begann.
3
Lübeck, Oktober 1375
H enrike schalt sich für ihre Dummheit. Was war nur in sie gefahren, in diesem Aufzug in den Hafen zu laufen? Übermorgen schon würde der Kaiser Lübeck besuchen. Sie würde mit anderen wohlgeborenen Jungfrauen der Stadt die Straßen säumen, um ihn zu ehren, und abends auf den Ball gehen. Und nun riskierte sie, ihr kostbares Kleid zu verschmutzen, nur um den Gast ihres Vaters in Empfang zu nehmen? Glücklicherweise war ihr Vater so besorgt über dessen Zustand gewesen, dass er ihr Aussehen gar nicht beachtet hatte, sonst hätte es vermutlich ein Donnerwetter gegeben, denn dieser Aufzug wäre selbst ihm aufgefallen.
Der Anblick des Brügger Geschäftspartners war aber auch schockierend gewesen. Seine Kogge sah aus, als hätte sie schon viele Stürme durchgestanden. Seeräuber hatten das Schiff überfallen, so viel hatte sie mitbekommen, bevor sie Reißaus genommen hatte. Die Piraten, der Fluch der See. In jedem Brief, in jedem Gebet, in jedem Gespräch bat ein Kaufmann den Allmächtigen darum, dass sein Schiff von Freibeutern verschont bliebe, dass Mensch und Ware ihren Bestimmungsort erreichten. Oft genug wurden die Schiffe von diesen Gesetzlosen aufgebracht, die die Mannschaft massakrierten und die Ladung an sich nahmen. Es waren grausige Geschichten, die sie schon als Kleinkind an der Feuerstelle gehört hatte und die ihr furchtbare Angst eingejagt hatten. Oft war sie nachts schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt. Sie hatte von wilden Männern geträumt, die sie verfolgten. Von Schiffen, die untergingen – und mit ihnen Simon und sie.
Die Fantasie ihres Bruders war durch diese Berichte hingegen noch beflügelt worden. Er wollte Ritter werden, Schwertbruder des Deutschen Ordens, wie ein Onkel, den sie zwar nie kennengelernt, von dem sie aber oft gehört hatten. Ein Bruder ihres Vaters war als junger Mann in den Orden eingetreten, und Simon war nie müde geworden, nach ihm zu fragen. Er wusste alles über den Kreuzritterorden, seinen eigenen Staat und die Handelsgeschäfte, die ihn reich und mächtig machten. Mit Vorliebe hatte Simon als Kind ›Ritter und Pirat‹ gespielt. Wenn sie dann mit Stöcken als Degen gegeneinander stürmten, hatten sie immer losen
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