Hansetochter
den Schläfen. »Ach, du bist dat, Henrikchen. Wünschen die Rademannen wieder etwas? Noch ein paar Knapknoken?«, fragte sie müde.
Henrike legte ihr lächelnd die Hand auf den Arm. »Nicht doch! Die sind alle satt, da passen nicht einmal mehr Knabbereien. Alles war wunderbar! Vater ist sehr zufrieden, und die hohen Herren sind es auch«, sagte sie.
Margarete ließ sich wieder auf die Bank sinken und gähnte herzhaft. Sie führte den Haushalt mit dem Schwung einer jüngeren Frau, aber an derart anstrengenden Tagen merkte man ihr das Alter an. Henrike spürte ebenfalls, wie müde sie war; die schlaflose Nacht saß ihr noch in den Knochen. Sie setzte sich neben die Alte an den Tisch. Die Mägde und Knechte taten sich an den Resten gütlich. Am Armentisch saßen vier Bettler, die ihr Glück gar nicht fassen konnten und beim Braten tüchtig zulangten. Jost fragte Henrike nach den Gesprächen bei Tisch aus, zu gerne wäre er wohl dabei gewesen. Henrike erzählte ihm einiges. Doch dann bemerkte sie auf einem Bord den Teil der Gerichte, den Margarete für die Verteilung an die Armen zurückgestellt hatte, und stand auf. Margarete wollte schon aufspringen, aber Henrike drückte sie sanft zurück. Heute würde sie die Almosen verteilen.
Als sie die Seitentür öffnete, schlug ihr eine Böe Nieselregen ins Gesicht. Würde sich bei diesem Wetter überhaupt jemand hinauswagen? Aber ja, im Schutz der Mauer saßen zwei Gestalten, ein kräftiger Mann mit Holzkrücke, dem ein Unterschenkel fehlte, und eine Frau – es war die mit dem Säugling! Henrikes Müdigkeit war wie fortgeblasen. Was tat sie hier, um diese Zeit, bei diesem Wetter? Langsam erhob sich die Bettlerin. Als sie in den Lichtschein der Fackel trat, erkannte Henrike, dass die Frau völlig durchweicht war. Vor ihre Brust gebunden trug sie ihr Kind, leises Schniefen war zu hören. Henrike wandte sich erst an den Mann. Sie wollte ihm nur rasch ein paar Lebensmittel zustecken, damit sie sich danach in Ruhe um die Frau kümmern konnte.
»Was tut ihr hier? Warum seid ihr nicht in eurer Unterkunft?«, fragte Henrike die Bettlerin. Als ihr bewusst wurde, wie besorgt sie geklungen hatte, fühlte sie in sich hinein. Ja, obgleich es doch so viele Arme in der Stadt gab, sorgte sie sich doch besonders um diese Frau und ihr Kind. Man sah nicht oft Bettlerinnen mit Kindern – das Leben auf der Straße war hart, und die Kleinen starben schnell weg. Der Gedanke an das Schicksal des Säuglings versetzte ihr einen Stich.
»Sie ... sie haben uns auf die Straße gesetzt. Jedes Lager ist vermietet. Alle sind hier, um den Kaiser zu sehen. Eine Frau mit einem kranken Kind stört nur«, brachte die Bettlerin stockend hervor. Wasser lief in Strömen von ihrem Gesicht. Ob es nur Regen war oder auch Tränen, vermochte Henrike nicht zu sagen.
»Was ist mit den Armenhäusern, den Stiftungen der frommen Frauen?«, forschte Henrike nach.
Die Bettlerin senkte den Blick. »Wir waren überall. Alles voll. Nirgendwo war Platz für uns«, sagte sie leise. »Können wir hier ... im Schutz der Mauer bleiben?«
Henrike konnte es nicht fassen. Die Kirchenstiftungen wiesen eine Frau mit einem Säugling ab, um Geld an den Besuchern von außerhalb zu verdienen? Und das sollte Gottes Wille sein?
Grübelnd strich sie den Niesel von ihren Wangen. Hier vor ihrem Haus konnten sie nicht schlafen, die Büttel hatten in diesen Tagen wenig Geduld mit Bettlern, die den Glanz des Stadtbilds schmälerten. Sie konnte sie aber auch nicht ins Haus bringen, das würde ihr Vater nicht zulassen. Der Stall! Es würde kaum auffallen, wenn die Frau und das Kind dort eine Nacht verbrachten. Sie müsste aber vorsichtshalber mit Margarete sprechen. Sie bat die Frau zu warten und wandte sich schon der Tür zu, als ihr einfiel, dass sie ihr noch gar nichts zu essen gegeben hatte. Flugs reichte sie ihr Brot und Braten, und die Bettlerin stellte sich in den Windschatten des Hauses und biss ausgehungert hinein.
Im Haus winkte Henrike nach Margarete. Sie berichtete ihr von der Bettlerin, dem Kind und ihrem Plan. Die alte Frau war entrüstet: »Ihr mögt ihr trauen, aber ik heb viel Boses gesehen!«
»Aber warum denn nicht? Es ist doch nur für eine Nacht. Das Kind – es hustet, sicher stirbt es sonst bald.«
Margarete kniff den zahnlosen Mund zusammen. »God sol ihr wol helpen! Wenn es Gottes Wille ist, dann stirbt es auch ohne unsere Hilfe.«
Doch Henrike war nun fest entschlossen. Sie ging zu dem Schrank mit
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