Hansetochter
an den Läden, als Margarete erwachte. Mit dem Herbst kamen die steifen Glieder. Jeder Wetterwechsel kündigte sich mit einem schmerzhaften Ziehen in den Gelenken an, die feuchte Kälte drang ihr bis ins Mark. Sie stemmte sich von ihrem Lager und griff den kleinen Tontopf, den sie neben ihrem Kissen verborgen hatte. Leise hörte sie Gesche schnarchen; sie hatte sich gestern den Magen arg vollgeschlagen und dann noch die Weinreste aus den Gläsern des Herrentisches vertilgt. Margarete würde sie heute vermutlich den ganzen Tag antreiben müssen, sonst würden sie die Arbeit nicht schaffen. Sie steckte ihre Finger in das mit Kräutern vermischte Fett und massierte es auf Knie und Knöchel. Fast konnte sie die zarte Säuglingsbrust wieder fühlen, die sie gestern Nacht mit einer anderen Kräutermischung eingerieben hatte. Was hatte Henrike sich nur dabei gedacht, dieser Frau und ihrem Kind Obdach zu geben? Ein jeder verdiente sein Los, ob Bettler oder Edelmann. Diese Frau lebte auf der Straße, weil Gott es so gewollt hatte. Und wer waren sie, sich gegen Gottes Willen zu stellen? Aber Henrike war jung, sie kannte die Härten des Schicksals noch nicht. So zart, so unschuldig wie Henrikes Gesicht war auch ihr Sinn, und Margarete konnte ihr einfach nicht böse sein.
Die Alte kniete sich neben das Lager und sprach ein Gebet. Es war der Elftausend-Mägde-Tag, der Tag der Heiligen Ursula und ihrer Begleiterinnen. Der große Tag, an dem der Kaiser Lübeck besuchen sollte. Doch für sie würde es ein arbeitsamer Tag wie jeder andere werden. Margarete rüttelte Gesches Schulter und schlurfte in den Hinterhof. Ein kühler Wind zauste ihreHaare. Die Erde war matschig, aber immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Ihre Beine wollten ihr noch nicht so recht gehorchen. Immer öfter plagten sie die Sorgen um die noch kommenden Jahre. Was würde aus ihr werden, wenn sie ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen konnte? Ihr Herr hatte versprochen, dass er für sie sorgen würde, aber würde er sein Versprechen auch halten? Auch bei anderen Herren hatte sie schon in Diensten gestanden. Sie wusste, dass viele heute dies und morgen etwas anderes sagten. Doch wenn jemand sein Versprechen halten würde, dann war es Konrad Vresdorp. Er hatte das Herz am rechten Fleck, genau wie seine Tochter. Also, was bekümmerte sie sich? War sie dem Teufel nicht schon einmal von seiner Schippe gesprungen? War ihre Lebenszeit nicht ohnehin nur geschenkt?
Margarete leerte ihren Nachttopf und lugte in den Stall. Das Licht des anbrechenden Tages fiel fahl auf die Tiere. Der Wachhund sah sie nur mit schief gelegtem Kopf an. Die Frau und das Kind lagen unbewegt, sie schliefen wohl noch. Wobbecke und Anneke. Sie hatte nicht wissen wollen, wie die beiden hießen. Solange sie namenlos blieben, konnte sie das Leid der Armen von sich schieben. Aber sobald sie ihre Namen wusste, wurde ihr Schicksal greifbar. Sie ertrug es nicht, Kinder dahinsiechen zu sehen. Zu oft hatte sie schon mit ansehen müssen, wie den kleinen Wesen das Leben entwich, wie ihre Seele zu Gott ging. Ihre müden Augen füllten sich mit Tränen. Unduldsam wollte sie sie wegblinzeln, aber die Gedanken ließen sich nicht mehr aufhalten.
Ihre eigenen Kinder. Die Zeit des großen Sterbens. Schwarze Beulen. Aufgeplatzte Haut. Blut. Die panischen Schreie, die ihr heute noch in den Ohren klangen. Eines nach dem anderen hatte die Pest dahingerafft. Denn sie war nicht immer die alleinstehende Magd gewesen, auch sie hatte einmal einen Mann und Kinder gehabt. Hatte sie verdient, was damals geschehen war, wie der Priester es sagte? Hatte sie sich gegen ihren Stand versündigt, war sie hochmütig gewesen? Eine Magd durfte nicht heiraten, und ein Handwerker hatte meist nicht genügend Geld, eine Familie durchzubringen. Aber ihr Mann und sie hatten geglaubt, dass sie es gemeinsam schaffen würden. Und wer verdiente schon ein so grausames Schicksal?
Margarete hieb gegen das Holz, immer und immer wieder, bis die Handfläche brannte. Legte schließlich die bebenden Finger über die Augen. Dass die Erinnerungen nicht aufhören konnten! Dass die Bilder nicht aus ihrem Kopf verschwanden, sie immer wieder heimsuchen mussten! Mancher, der die Pest überlebte, hatte sich anschließend zu Tode gesoffen, weil er den Schmerz betäuben wollte. Ihr Mann – nein, daran wollte sie nicht denken. Sie zwang ihren Atem zur Ruhe. Wie hatte sie nur weiterleben können? Indem sie ihre Vergangenheit verbarg, niemandem davon erzählte.
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