Hansetochter
Und dann war da Henrike gewesen. Dieses Kind, das seine Mutter verloren hatte, das sie brauchte. Margarete liebte sie wie ihre eigene Tochter. Wenn Henrike sie angelächelt hatte, hatte sie den Kummer vergessen können. Dafür kehrte er in anderen Situationen umso heftiger zurück. Wie jetzt.
Unter den Decken regte sich etwas. Sie musste die Frau mit ihren Schlägen aufgeweckt haben. Anneke hustete. Margarete zog sich zurück. Sie wollte den beiden nicht begegnen. Sie wollte kein krankes Kind in diesem Haus! Dass Henrike ihr das angetan hatte! Sie würde den Mägden und Knechten mitteilen, dass eine Bettlerin und ihr Kind im Stall Unterschlupf gefunden hatten. Gesche sollte etwas Biergrütze hinausbringen und Wobbecke sagen, was zu tun war.
~~~
Henrike schreckte hoch, es war schon hell. Sie musste tief geschlafen haben. Im Haus herrschte bereits rege Geschäftigkeit. Heute war der große Tag! Ihr Herz hüpfte vor Freude. Sie wuschsich und zog ihr Kleid über. Es war ein Tappert aus feinem Stoff. Das gegürtete Obergewand hatte weite Tütenärmel, vorne zahlreiche Knöpfe und einen Stehkragen. Anschließend eilte Henrike ins Haupthaus, sich im Laufen die Haare hochbindend. Fast wäre sie über Gesche gestolpert, die die Decken zum Lüften hinaustrug.
»Langsam, Jungfer Henrike. Ihr fallt sonst noch! Und der schöne Tappert, er ist ja noch ganz offen! Wartet, ich helfe!« Die Magd legte die Decken ab und half Henrike, die Knöpfe zu schließen.
»Warum hat mich niemand geweckt? Ich habe verschlafen! Die anderen sind bestimmt schon losgegangen. Nicht, dass ich den Kaiser verpasse!«, rief Henrike.
»Nicht doch, Herrin. Alle sind noch hier. Frau Margarete erwartet Euch in der Küche«, beruhigte Gesche sie.
Henrike verspürte ein flaues Gefühl im Magen, ein Beben und Zittern. »Nein, essen kann ich nichts.«
Alle Knöpfe waren geschlossen, und die Magd strich vorsichtig die Tütenärmel glatt. »Doch, Ihr müsst essen, Herrin. Frau Margarete hat eigens Blamensir für Euch gemacht. Das wird Euch stärken und von innen wärmen. Das könnt Ihr brauchen, wenn Ihr den halben Tag auf der Straße steht.«
Doch Henrike fiel jetzt die Bettlerin wieder ein, und sie wandte sich dem Hinterausgang zu.
Die Magd zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Im Stall ist alles in Ordnung, Herrin. Ich habe schon Biergrütze hinausgebracht.«
»Danke, dann bin ich beruhigt!«, rief Henrike und lief in die Küche. Dort füllte ihr Margarete den Blamensir, gehacktes Huhn in gesüßter Mandelmilch, mit einer großen Holzkelle in eine Schale und reichte sie der jungen Frau. Dann ließ die Amme ihren prüfenden Blick über sie schweifen.
»Das Kleid ist hübsch, aber ist es auch wirklich warm genug?«, überlegte Margarete.
»Ich ziehe den Nuschenmantel darüber«, beruhigte Henrike und stocherte in ihrem Eintopf. Er roch nach Mandeln und Nelken. Unter dem wachsamen Blick der alten Frau begann Henrike langsam zu speisen. Das Gericht war warm und süß; vielleicht würde der Blamensir ihr doch guttun.
Margarete setzte sich zu ihr. »Schau genau hin und merk dir alles, dat is myn rad. Einen Kaiser sieht man nur einmal im Leben, wenn überhaupt. Er ist ein Gesalbter, von Gott eingesetzt. Davon kannst du deinen Kindern erzählen.«
Ihren Kindern ... Das schien Henrike jetzt doch weit hin.
Als sie aufgegessen hatte, suchte sie ihren Vater. Sie mochte Geheimnisse nicht, wollte ihm von der Bettlerin erzählen. Die Tür zu seiner Schreibkammer war nur angelehnt, seine Schatulle aus Ahornholz stand auf dem Tisch. Hatte er gestern Abend mit Adrian Vanderen noch Geschäfte gemacht? Wo war ihr Gast überhaupt?
»Euer Vater ist schon im Rathaus. Ich soll Simon und Euch in die Breite Straße bringen.«
Henrike fuhr herum – sie hatte Jost gar nicht bemerkt. Der junge Mann stand in der Tür und musterte sie. Wie selbstverständlich ging er in die Schreibkammer des Vaters, nahm die Brieflade an ihrem Klappgriff und verschloss sie in einem Schrank.
Henrike warf ihren Nuschenmantel aus Samt über und nahm den Kranz aus Blumen und Blättern auf, den sie, wie alle Jungfrauen, im Haar tragen sollte.
Erst hatte sie sich gewundert, dass Jost sie und Simon bringen sollte, doch kaum, dass sie auf die Straße getreten waren, mussten sie sich in den Strom der Schaulustigen einreihen, so voll war die Stadt. Es war sicherer und auch bequemer, männlichen Schutz zu haben. Jost ging voraus, nur langsam konnten sie sich voranschieben. Simon lief auf
Weitere Kostenlose Bücher