Hansetochter
stieß die Tür auf, und kalter Wind pfiff ihr ins Gesicht. Noch einmal drehte er sich zu ihr um, sein Blick war weicher geworden. »Verzeiht meine harschen Worte. Ihr mögt eine reizende Frau sein, jung und unerfahren. Doch auch Unschuld ist keine Entschuldigung dafür, sich an einem falschen Spiel zu beteiligen. Wisst Ihr denn nicht, was für verheerende Folgen üble Nachrede für einen Kaufmann haben kann? Ich hoffe für Euch, dass Ihr in Zukunft besser nachdenkt, bevor Ihr Euch vor einen fremden Karren spannen lasst.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus, wollte ihn aufhalten, doch sie wagte es nicht, ihn zu berühren. ›Bleibt‹, wollte sie rufen, ›sprecht mit mir!‹ Aber kein Wort kam ihr über die Lippen. Die Tür schlug zu. Sie lehnte die Stirn an das Holz. Er war fort. Adrian Vanderen war fort. Beinahe ihr Verlobter? Er? War also alles anders gewesen, als sie geglaubt hatte? Aber warum hatte ihr Vater nichts verraten? Und was war mit den Gerüchten?
Als sie aus dem Windfang trat, schoss ihre Tante auf sie zu wie ein Habicht auf eine Maus. Ilsebe packte Henrike und gab Rotger ein Zeichen. Der Gehilfe zog Henrike vor allen Trauergästen bis zum hintersten Ende des Flügelanbaus und schob sie in eine Gesindekammer. Ilsebe war hinterhergekommen und musterte sie. Ihr Gesicht war weiß vor Zorn und maskengleich.
»Der Tod deines Vaters hat dich verwirrt. Glaube nicht, dass ich das nicht verstünde«, sagte sie mühsam beherrscht. »Dein Verhalten darf aber nicht so weit gehen, dass du die Regeln des Anstandes verletzt. Du hast mir nicht zu widersprechen und nicht meinen Anordnungen zuwiderzuhandeln. Gehe in dich und bete!« Sie warf die Tür zu und schloss hinter Henrike ab. Henrike blieb allein im Dunkeln zurück, allein mit ihrer Hilflosigkeit, ihrer Trauer und ihrer Wut.
»Lass mich raus!«, schrie sie und hämmerte gegen die Tür, bis die Schritte verklungen waren. Tränen stiegen wieder in ihr auf, unaufhaltsam. Vater, ach Vater!
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Drei Schritte vorwärts, die Bettstatt. Zwei seitwärts, die Wand. Vorwärts, zur Seite. Bettstatt, Wand. Hin, zurück. Wie oft war sie diese Kammer schon abgelaufen? Es war zum Verrücktwerden! Henrike wäre am liebsten gerannt, aber sie konnte nicht. Sie hätte gerne vor Wut gebrüllt, aber das gehörte sich nicht. Sie würde um sich schlagen, aber das brachte auch nichts, das wusste sie schon. Sie musste sich bewegen. Es war eiskalt, sie war durchgefroren bis ins Mark. Sie sah auf, wieder einmal. Knapp unter der Decke war eine schmale Scharte, durch die Luft in die Kammer drang. Endlich zeichnete sich ein schmales blaugraues Rechteck ab, die Sonne ging auf. Sie legte den Kopf in den Nacken, konnte sich kaum satt sehen daran, wie die Sonnenstrahlen die Nacht vertrieben. Sie musste früh aufgewacht sein, denn das Ende der Dunkelheit hatte lange auf sich warten lassen.
Seit knapp zwei Tagen war sie schon in der Kammer eingesperrt. Seitdem war sie allein gewesen, nicht einmal Telse hatte sie besucht. Lediglich Margarete war einmal gekommen und hatte ihr Brotsuppe und einen Nachttopf gebracht. Die Alte war besonders schweigsam gewesen und hatte, als Henrike sie ansprach, nur auf die offene Tür gewiesen. Beobachtete sie jemand? Henrike hatte geschimpft, dass man ihr doch nicht verbieten könne, mit Margarete zu sprechen. Und einsperren dürfe man sie auch nicht! Sie solle sich da mal nicht so sicher sein, hatte Margarete gemurmelt und leise hinzugefügt, Henrike solle sich fügen, sonst mache sie es für alle nur noch schlimmer. Was hatte sie damit gemeint? Was könnten ihre Tante und ihr Onkel denn tun? Sie presste die Hand in die Magenkuhle; sie hatte schrecklichen Hunger. Wie lange wollte man sie noch hier einsperren?
Draußen war es inzwischen hell geworden. Sie hörte Gänse vorbeiziehen, unentwegt rufend. Ob sie sich wohl unterhielten? ›Sieh nur‹, schnatterte eine Gans vielleicht, ›wie niedlich diese Stadt mit den kleinen Wesen ist, die über die Erde krabbeln.‹ Und die andere antwortete: ›Was plagen sie sich nur mit ihren Karren und Wagen? Warum erheben sie sich nicht einfach in die Lüfte?‹ Henrikes Mundwinkel hoben sich bei diesen Gedanken zu einem Lächeln. Oder war es ein Lied, das die Gänse sangen? Dass man ihr nicht einmal ihre Flöte, ihre Laute oder – sogar darüber hätte sie sich in dieser Situation gefreut – ihren Stickrahmen gebracht hatte! War sie nicht langsam genügend in sich gegangen? Hatte sie wirklich so viel verkehrt
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