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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weiß
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er könnte den Schmerz von Henrike nehmen, und fand sie zugleich in ihrer Trauer wunderschön.
    »Ist ein Gast gekommen? Sucht die Tante mich?«, fragte sie und senkte die Beine auf den Boden.
    Jost nahm seinen Mut zusammen. Wenn er es jetzt nicht tat, würde sich so schnell keine Gelegenheit mehr bieten. Er wagte es, ihre Hand zu ergreifen. Ihre Finger waren so weich, ihre Haut so zart! Erstaunt sah sie ihn an, schreckte jedoch nicht vor seiner Berührung zurück, was ihn in seinem Entschluss bestärkte.
    »Jungfer Henrike, was auch geschieht, ich werde immer für Euch da sein«, sagte er. »Ihr sollt wissen, dass Ihr einen Freund in mir habt. Einen Vertrauten. Einen Gefährten   – wenn Ihr es denn wollt!« Seine Wangen brannten, Jost spürte die Begierde in sich aufsteigen. Er führte ihre Hand an seine Lippen, atmete ihren Duft ein, küsste zart ihre Finger   ... Doch damit war er zu weit gegangen. Henrike entzog sich ihm und sprang auf. Er richtete sich ebenfalls auf, fürchtete schon, sie würde verschwinden, doch nach einigen Schritten verharrte sie. In ihren Augen war Kummer zu lesen, aber auch Verwirrung   – nicht Liebe, wie er sich erhofft hatte.
    »Ich weiß deine Worte zu schätzen, Jost. Und ich bin dankbar für deine Treue«, sagte sie stockend, dann lief sie hinaus. Jost blieb zurück, enttäuscht. Unbeherrscht kratzte er seine Wangen.Hatte er sie verschreckt? Oder brauchte sie nur Zeit, um zu begreifen, was sie ihm bedeutete?
    Henrike kehrte in das Totenzimmer zurück, doch schon nach wenigen Augenblicken hatte sie das Gefühl, in diesem Raum keine Luft zu bekommen. Der Leichnam des Vaters. Die mitleidig dreinblickenden Nachbarn. Ihre Verwandten, die sich geschäftig um die Trauergäste sorgten. Das alles schnürte sie ein, bedrängte sie förmlich. Sie floh hinaus. Aber wohin   ...?
    Im Haus war es still. Die Arbeit ruhte. Man durfte dem Toten die Ruhe nicht nehmen. Noch irrte der Geist zwischen dieser Welt und der nächsten umher; ihn zu stören, könnte ihn dazu reizen, seinen Angehörigen Schaden zuzufügen. Unbewegt hing das Seil des Lastenaufzugs herab. Sie schlich die Wendeltreppe hinauf, setzte sich auf ein Fass, wie sie es oft als Kind getan hatte. Henrikes Wangen glühten. Josts Liebeserklärung   – denn das war es wohl gewesen, sie hatte ja keine Erfahrungen damit   – hatte sie aufgewühlt. Nur ihr Atem war zu hören. Er ging noch immer schnell, rastlos wie ihre Gedanken und flatternd wie ihre Gefühle. Der Ratsball, die Gerüchte. Adrian, zu dem sie sich auf eine sonderbare Weise hingezogen fühlte und den sie nicht einzuschätzen wusste. Die Hochzeitspläne, die sie mit Freude erfüllt hatten. Und jetzt die Liebeserklärung von Jost, dem Freund ihrer Kindheit!
    Sie rief sich noch einmal ihre letzten Begegnungen in Erinnerung. Hatte sie ihn ermutigt? Hatte sie ihn glauben lassen, dass auch sie ihn liebte? Sie wusste nicht, wie sie ihm in Zukunft begegnen sollte. Eine Heirat hätte seiner Schwärmerei ein Ende bereitet, aber nach dem Tod ihres Vaters wusste sie ja selbst überhaupt nicht, wie es weitergehen würde. Sie sog tief die Luft ein, und ihre Brust wurde wieder weit. Die Atmosphäre des Speichers hatte sie wieder zu sich gebracht. Wenigstens hier war alles so, wie es sein sollte. Langsam fühlte sie sich sicher genug, um wieder nach unten zu gehen.
    Sie traf gerade noch rechtzeitig ein, um Bruder Detmar, den Beichtiger ihres Vaters, zu verabschieden. Der Mönch war in eine graubraune Kutte gehüllt und trug trotz des herbstlichen Wetters kein Schuhwerk. Sein Gewand war so fadenscheinig, wie man es selbst bei den der Armut verpflichteten Franziskanern nur selten sah.
    »Mors certa, hora incerta   – der Tod ist sicher, nur die Stunde des Todes ist ungewiss, dessen war sich Euer Vater wohl bewusst. Genauso wie der Tatsache, dass seine Seele zu Gott gehen würde. Sorgt Euch also nicht um sein Seelenheil, Tochter«, sagte er und lud sie zum Gebet.
    Ohne sich stören zu lassen, knieten sie auf dem Fußboden und beteten. Anschließend verabschiedete sich der Mönch. Henrike ging ruhiger und gefasster zu den anderen Trauergästen zurück.
    ~~~
    In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages wurde Konrad Vresdorp beigesetzt. Hartwig und Nikolas Vresdorp sowie einige Freunde und Weggefährten aus Rat und Kaufmannschaft trugen den mit einem kostbaren Tuch bedeckten Sarg. Ein Priester ging voraus und besprengte den Weg zur Marienkirche mit Weihwasser. Henrike und Simon folgten

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