Hansetochter
gemacht?
Sie pfiff leise ein Lied. Da hörte sie auf einmal ein Scharren. Der Eingang zu ihrer Kammer ging einen Spaltbreit auf. Simon schob sich hinein und ließ die Tür wieder ins Schloss fallen. Henrike stürzte ihm entgegen und nahm seine Hände. Ihr Bruder hielt ihre Liebkosung einen Augenblick aus, doch dann ermahnte er sie, ihm zuzuhören.
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt«, flüsterte er so geheimnisvoll, als würden sie wieder Ritter und Pirat spielen. »Wir waren in der Kanzlei. Diercksen hat Vaters Testament verlesen.« In der Kanzlei? Hätte sie nicht dabei sein müssen, wenn der letzte Wille ihres Vaters bekanntgegeben wurde? »Ich wollte dich holen, aber ich durfte nicht. Henrike – alles gehört uns, dasHaus, die Bude auf dem Markt, Ware, Schiffsanteile, Geld und Grundstücke! Ich wusste gar nicht, dass Vater so reich war! Mir hat der Kopf geraucht vor lauter Einzelheiten! Und weißt du, was er über Onkel Hartwig verfügt hat: Ihm sollen seine Schulden erlassen werden! Nichts sonst! Kein Geld, kein Gut! Du kannst dir sicher Onkels Gesicht vorstellen, als Diercksen das verlesen hat!« Simon zog eine Grimasse und lachte auf.
Endlich konnte Henrike wieder die Grübchen in seinen Wangen sehen. Am liebsten hätte sie sanft darüber gestrichen, so sehr war sie auf einmal von Liebe für ihren kleinen Bruder erfüllt. Bei den nächsten Worten verdüsterte sich sein Gesicht aber, als ob ein Schatten darauf gefallen wäre.
»Der Onkel und die Tante sind stinksauer, auch auf dich. Wenn du nur nicht so widerborstig wärst. Dabei sollen wir beisammen bleiben, bis Hartwig dich nach Vaters Vorstellungen verheiratet oder ich meine Lehre in einem anderen Land fortsetze, heißt es im Testament. Zum Glück ist Hartwig nicht allein unser Vormund, Vater hat auch Symon Swerting dazu berufen. Aber der ist ja noch auf diplomatischer Mission.« Ein Ruf war aus dem Flur zu hören, Simon wurde gesucht. Hastig fuhr er fort: »Vater hat für alle gesorgt. Allen hat er Geld vermacht, Margarete genug, damit sie, wenn sie es will, ihren Lebensabend in einem Beginenkloster verbringen kann! Jost bekommt etwas Geld, um einen eigenen Handel zu gründen. Die Tante hat kaum mehr Luft gekriegt, als sie es hörte!« Wieder Rufe, lauter diesmal. »Ihre Wut hat sie an der Bettlerin und ihrem Kind ausgelassen, die hat sie aus dem Stall geworfen. Was haben die da überhaupt gemacht?« Wobbecke und Anneke wieder auf der Straße? Das Mitgefühl packte Henrike von Neuem. Hoffentlich fanden sie einen anderen, der ihnen half! Sie konnte wohl nun nichts mehr für sie tun.
»Simon! Wo steckt der Bengel?!« Dem Onkel war anzuhören, wie wütend er war.
Ihr Bruder schob die Hand unter sein Wams und zog etwas daraus hervor. »Hier, ich habe dir etwas mitgebracht!«
Es war Henrikes Flöte. Ein letzter Blick, das Klappen der Tür. Henrike war wieder allein, innerlich bebend und erfüllt von widerstreitenden Gedanken und Gefühlen. Nachdenklich führte sie die Flöte an die Lippen und spielte einige Töne.
7
S ein Vater hatte ihn zu sich rufen lassen, aber Nikolas Vresdorp hatte es nicht eilig, dem Ruf nachzukommen. So oft es ging, entzog er sich ihm. Es kam ihm entgegen, dass er wie die anderen Kaufmannssöhne auf Reisen geschickt worden war, um sich seine Sporen zu verdienen. In der Ferne konnte er tun und lassen, was er wollte, niemand kontrollierte ihn, und Heimweh kannte er ohnehin nicht. Wonach auch? Seiner Familie etwa? Der scheinheiligen Mutter, seiner duckmäuserischen Schwester? Seinen Vater konnte er ohnehin kaum ertragen. Wie er sich von seinem Eheweib herumschubsen ließ! Vaters steife, aufgesetzte Art. Der Glaube, der wie ein Banner emporgehalten und jedem ins Gesicht geschleudert wurde. Und dahinter Abgründe, die so tief waren, dass selbst er nicht hineinblicken mochte.
Aber jeder hatte nun mal seine eigenen Vorlieben, auch er. Er dachte an die Hure, mit der er es letzte Nacht getrieben hatte. Am Anfang hatten ihr seine Spiele noch Freude bereitet, aber später dann hatte sie gequiekt wie ein Ferkel, und das wiederum hatte ihn nur noch mehr gereizt. Das Gesicht seiner Base Henrike trat vor seine Augen, die derart um ihren Vater trauerte, dass sogar er ihr diese Gefühle abnahm. Sie musste ihn wirklich geliebt haben. Henrike war niedlich, aber eingebildet. Es könnte Spaß machen, ihr diesen Hochmut auszutreiben. Doch sie stand unter dem Schutz der Familie und war damit unantastbar, jedenfalls für ihn – obwohl
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