Hansetochter
gemeinsam mit dem Gesinde und den anderen Trauergästen. Ungehindert ließ Henrike die Tränen fließen. Sie fühlte sich verloren und verlassen. Die Heuke, die sie um den Kopf gelegt hatte und die sie bis zu den Waden umhüllte, erschien ihr heute wie ein Schutz. Dass sich trotz der frühen Stunde so viele Menschen eingefunden hatten, um ihrem Vater die letzte Ehre zu erweisen, tröstete sie ein wenig. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und die Fackeln warfen züngelnde Schatten an die Flanken der Häuser. Henrike musste unwillkürlich an die Schrecken des Fegefeuers denken. Bestimmt hatte ihr Vater in seinem letzten Willen Geld anGeistliche verfügt, die regelmäßig Totenmessen abhalten sollten, dann wäre sein Seelenheil gewiss.
In der Kirche war es so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte. Während der Messe wurde Henrike bewusst, dass ihr Vater nie mehr in dem fein geschnitzten Ratsgestühl Platz nehmen würde. Er würde nie die Altartafel spenden, mit der er geliebäugelt hatte, nie auf Pilgerfahrt gehen. Und nie mehr würde sie sein Lachen hören. Sie schluchzte so heftig, dass Simon ihre Hand ergriff. Konrad Vresdorp hatte Wert darauf gelegt, eines Tages, wie die anderen hohen Räte, in der Marienkirche begraben zu werden. Dass dieses würdige Begräbnis nun durch den Kaiserbesuch und den damit verbundenen Trubel unmöglich war, erbitterte sie sehr.
Der Priester führte die Gemeinde zum Marienkirchhof, wo bereits ein Grab ausgehoben war und die Knechte ungeduldig darauf warteten, es zuzuwerfen. Nur keine Zeit verlieren! Nur die Festivitäten nicht durch einen Todesfall beeinträchtigen lassen! Wie verlogen das alles war! Henrike betete mit erhobener Stimme, den tränengeschwängerten Blick vorwurfsvoll erhoben, als könnte sie auch diejenigen in der Trauergemeinde zur Besinnung bringen, die in Gedanken bei dem heutigen Turnier und anderen Vergnügungen waren. Beim anschließenden Zug zum Leichenschmaus hatten sich die Reihen bereits gelichtet. Sogar Hartwig Vresdorp und sein Sohn waren dem Ruf des Kaisers zum Turnier gefolgt. Er habe auch als Bürger Pflichten, nicht nur als Bruder, hatte ihr Onkel gemeint. Ob dazu aber der Besuch eines Turniers nötig war? Oder wollte er angeblich unaufschiebbare Gespräche führen? Noch in der Kirche hatte Hartwig Vresdorp verschiedene Trauergäste beiseitegenommen und auf sie eingeredet. Ob er wirklich um ihren Vater trauerte? Oder hatte er nur eine andere Art, mit dem Verlust fertigzuwerden? Henrike konnte noch immer nicht fassen, dass ihr Vater so plötzlich gestorben war. Er war so voller Tatendrang gewesen! Nun war sie eine Waise und hatte niemanden mehr außer ihrem Bruder.
Vor ihrem Haus warteten bereits die Bettler. Simon und sie verteilten Almosen. Auch die Armen würden nun für das Seelenheil des Vaters beten. Die Beileidbekundungen der Armen rührten Henrike erneut zu Tränen. Als die Trauergäste eintrafen, brummte ihr Kopf vom Weinen, aber das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, es hatte sie erleichtert, ihrem Kummer freien Lauf zu lassen. In der Diele waren Tische für die Trauergesellschaft aufgebaut. Als ihre Tante die Mägde anwies, Speise und Trank zu verteilen, überkam Henrike ein merkwürdiges Gefühl: Ilsebe Vresdorp spielte sich auf, als ob sie die Herrin im Hause wäre. Simon schien die Situation ähnlich wahrzunehmen, denn er sagte leise: »Als ob alles ihr gehört. Deshalb hat sie wohl auch den Psalter und den Familienschmuck an sich genommen.«
»Sie hat was ?«, fragte Henrike fassungslos. Sie war ihrer Tante dankbar für alles, was sie tat, aber Psalter und Schmuck waren nun einmal Familienerbstücke. Sicher war es ein Versehen. Oder sie machte sich wirklich Sorgen darum, dass das kostbare Buch bei den vielen Besuchern wegkommen könnte.
Die Augen ihres Bruders funkelten erbost. »Sie würde gut auf ihn aufpassen, sagte Tante Ilsebe, als ich sie darauf ansprach. Bei ihr sei er sicher.«
»Und bei uns nicht?« Henrikes Stimme wurde laut. Sie war froh, dass sie einen Ring mit einem Saphir, einen Armreif und eine Kette von ihrer Mutter Clara selbst verwahrte, weil sie diesen Schmuck manchmal trug. Sie fürchtete schon, durch ihren lauten Ausruf die Aufmerksamkeit ihrer Tante erregt zu haben, bis sie bemerkte, dass sich deren gestrenger Blick nicht auf sie, sondern auf Adrian Vanderen richtete, der hinter ihr und Simon den Windfang betreten hatte. Auch der Kaufmann aus Brügge war bei der Beerdigung gewesen. Ilsebe Vresdorp kam auf sie
Weitere Kostenlose Bücher