Hansetochter
ging es bei seiner angeblichen Fürsorglichkeit.
Doch Henrike bot ihm die Stirn. »Und wenn ich mich weigere?«
Ihr Onkel schob den Unterkiefer so heftig vor, dass sie die Zähne übereinanderschaben hörte. »Dann lasse ich dich dorthin prügeln«, antwortete er, und plötzlich brüllte er: »Jost!«
Henrike stieß schwer die Luft aus. Sie musste sich fügen. Sie konnte nichts gegen seine Anweisung tun. Er war ihr Vormund. Solange sie nicht verheiratet war, konnte er über sie bestimmen. Dennoch blieb sie stehen.
»Was ist denn noch?«, fragte er und kam zorngeschwellt näher.
Henrike hielt den Atem an, seine Ausdünstungen waren nur schwer erträglich. »Vaters Hinterlassenschaft ... Hat er Verfügungen wegen meiner Heirat getroffen? Er sagte, er habe einen Ehemann für mich gefunden, als ich ihn am Abend vor seinem Tod das letzte Mal sah.«
Ihr Onkel lächelte trunken. »Nein, hat er nicht. Und jetzt verschwinde. Jost!«
Sie hörte Schritte. Es half nichts, sie musste gehen.
»Und Simon?«, fragte sie noch.
»Der Junge bleibt hier. Er muss noch viel lernen.« An der Tür trafen sie auf Jost. Henrike sah ihn nur scheu an.
»Eine Sauwirtschaft! Wo ist die Brieflade meines Bruders?«, fauchte ihr Onkel, als sie die Schreibstube verließ.
Simon saß im Speicher an einem Tisch, den Rücken ihr zugewandt. Er hatte die Arme aufgestützt, seine Schultern wirkten schmal und spitz. Rotger, der Gehilfe des Onkels, befestigte Säcke an dem Seil des Windenrades und ließ sie hinunter. Henrike fragte ihn, was es damit auf sich hatte, aber er gab ihr keine Antwort. Bevor sie darauf beharren konnte, bemerkte sie die Hand ihres Bruders. Die Fingerkuppen an seiner Linken waren rot geschwollen. An den Rändern der Fingernägel bemerkte sie Spuren von getrocknetem Blut. Ein schmales Tuch war um die Knöchel gebunden. Besorgt kniete sie sich neben ihn, nahm seine gesunde Hand, in der er einen Griffel hielt, und fragte ihn, was geschehen sei. Das Weiße in Simons Augen war rot geädert. Er hatte wohl auch viel geweint seit dem Tod des Vaters, aber er verbarg seinen Kummer vor ihr. Doch dieses Mal hatten seine Tränen einen anderen Grund gehabt.
»Ich habe mich verschrieben, bei einer Warenliste. Ich habe Strafe verdient, meinte unser Onkel. Und jetzt muss ich Abschreibübungen machen.« Die Wachstafeln vor ihm waren über und über mit Buchstaben bedeckt, die Adern auf seinem Handrücken traten vor Anstrengung hervor. In Henrike brodelte es.Sie war entschlossen, nicht zu reisen, sie konnte Simon hier nicht allein lassen.
»Du musst gehen«, beschwor er sie jedoch, nachdem sie von dem Gespräch mit dem Onkel berichtet hatte. »Er wird auch dich nicht schonen. Mach dir um mich keine Sorgen. Solange ich tue, was er sagt, komme ich schon klar.« Sie schloss ihn in die Arme. Ihr tapferer kleiner Bruder! Sie würde Jost bitten müssen, dass er auf ihn achtgab, solange sie fort war. Es würde hoffentlich nicht allzu lange dauern.
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Obgleich Tante Ilsebe zum Aufbruch mahnte, ließ Henrike sich nicht antreiben. Sie verabschiedete sich von den Mägden. Gesche wirkte, als habe sie geweint – es war rührend, wie sehr sie alle um ihren Herrn trauerten! Dann schüttelte sie den Knechten die Hand. Margarete flüsterte ihr zu, dass sie versuchen würde, sich um Wobbecke und Anneke zu kümmern. Jost drückte Henrikes Hand besonders lange und sah ihr fest in die Augen, als wollte er sein Versprechen, auf Simon zu achten, bekräftigen. Ihr Bruder stand steif neben seinem Onkel, Henrike umarmte ihn kurz, aber heftig.
Nun drängelte auch ihr Vetter. Das Wetter könne jeden Moment umschlagen. Wenn alles gut liefe, könnten sie in einem halben Tag den Hof erreicht haben. Ihr Bündel lag schon auf dem Wagen, umgeben von Paketen und Fässern. Zwischen ihren Kleidern hatte sie, einer Eingebung folgend, den Schmuck versteckt, der ihr von ihrer Mutter und ihrer Stiefmutter vererbt worden war. Ruckend setzte sich der Wagen in Bewegung, und sie verließen ihren Hof. Henrike hielt die sieben Türme Lübecks im Blick, bis sie hinter dem Horizont verschwanden. Mit jedem Schritt ihres treuen Pferdes Bagge wurde ihr das Herz schwerer. Wann würde sie ihren Bruder und ihre Heimatstadt wiedersehen?
8
D ie Lanze krachte auf das Metall und brach entzwei. Der Ritter war nach hinten gesackt, hielt sich nur noch knapp auf seinem Ross. Die Pferde schnaubten, als sie gezügelt wurden. Das Publikum stöhnte auf, Männer schrien wüste Anfeuerungen. Es
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