Hansetochter
Die Männer und Frauen hatten sich um das Lagerfeuer geschart und sangen. Kinder stocherten mit Stöcken in der Glut. Katrine ging mit einem Korb herum und verteilte Krapfen.
»Was meinst du damit?«, rief Henrike Asta noch nach, aber ihre Frage blieb ohne Antwort. Ihre Augen wurden feucht. Was sollte sie nur tun? Sie ließ sich in den Sand sinken. Jemand kam näher. Henrike fühlte, wie sich ein Arm um ihre Schulter legte. Katrine zog sie hoch und führte sie zum Feuer.
Einen Augenblick saßen die beiden jungen Frauen still nebeneinander. Henrike sah in das prasselnde Feuer, sah die Flammen in den Himmel züngeln, Funken hochstieben, als wollten sie mit den Sternen leuchten, sah sie verglühen und wurde auf einmal ganz ruhig. Sie wollte beten. Es würde hoffentlich keine Rolle spielen, wo sie ein Gebet für ihren Vater anstimmte, Hauptsache, sie tat es. Kaum nahm sie wahr, wie Katrine aufstand und sagte,dass sie gleich wieder da sein werde, und zum nahen Buschwerk ging.
Henrike war noch immer tief in sich versunken, als Asta zum Aufbruch rief. Sie löste die Hände aus der Gebetshaltung und sah sich um. Kleinere Kinder lagen schon auf dem Karren und schliefen. Wo war bloß Katrine? Sie hätte längst zurück sein müssen. Henrike nahm eine Fackel und ging in die Richtung, in die Katrine verschwunden war. Je näher sie dem Dickicht kam, desto größer wurde ihre Angst.
»Henrike!« Ein Schrei – das war Katrine gewesen!
Die anderen am Strand hatten offenbar nichts gehört, das Rauschen der Brandung hatte den Hilferuf verschluckt. Beklommen rief sie den Namen des Mädchens. Katrine antwortete erneut, diesmal leiser. Henrike hielt die Fackel schützend voraus. Sie zwängte sich durch Buschwerk und an dicken Bäumen vorbei. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Überall knackte und raschelte es. Wie viele Geräusche es im Wald gab! Waren es Tiere, die sie verursachten? Oder doch die Geister der Verstorbenen? Gerne hätte sie jetzt Griseus an ihrer Seite gehabt. Wo war der Hund nur? Sollte sie die Knechte rufen? Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Sie öffnete ihren Mund, schrie mit angstvoll dünner Stimme, doch es war zu spät.
Vor sich sah sie Katrine auf dem Boden liegen, begraben von einem kräftigen Mann, der sich über ihr bewegte. Katrines Röcke waren hochgeschoben, ihre Beine strampelten mit der Kraft der Verzweiflung. Henrike stürzte sich auf den Fremden und schlug blind mit der Fackel auf seinen Rücken ein. Er brüllte auf, als die Flammen sein Haar versengten. Plötzlich nahm sie im Dunkeln eine Bewegung wahr. Vor ihr stand ein zweiter Mann mit schwarzen Augenhöhlen wie bei einem Totenkopf. In seinem böse grinsenden Mund sah sie statt der Vorderzähne eine breite Lücke klaffen. Die Fackel wurde ihr aus der Hand geschlagen und verlosch. Henrike taumelte zurück, als sie unvermittelt vonder Faust des Angreifers im Bauch getroffen wurde. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihr aus, während sie zusammenklappte und auf den Waldboden sank.
»Schönen Gruß aus Lübeck«, hörte sie noch, bevor der Mann mit voller Kraft auf ihre Hand sprang und die Knochen ihrer Finger brachen.
10
Lübeck, November 1375
A drian Vanderen schob unwillig den Teller von sich. In diesen Tagen nach Allerheiligen und Allerseelen hatte er nie viel Appetit. Mehr als sonst verfolgte ihn in dieser trüben Zeit seine Familiengeschichte. Die Gedanken an seine zwei verstorbenen Geschwister und ihren Tod. Sie hatten kaum das Kleinkindalter überlebt. Arm und vernachlässigt, wie sie waren, hatte eine Krankheit sie dahingerafft. Adrian hatte alles getan, um sie zu retten – es hatte nicht gereicht. Er wusste, ihn traf keine Schuld, sondern seine Eltern, doch ihr Schicksal verfolgte ihn bis heute.
Doch nun musste er sich auf das Essen konzentrieren. Bis zu seinem ersten großen Gastmahl würde er sich etwas einfallen lassen müssen. Für seine Schiffsbesatzung waren die Speisen, die hier auf den Tisch kamen, ja in Ordnung, satt machten sie allemal. Aber Kaufleuten oder anderen wichtigen Besuchern konnte er den matschig gekochten Fisch, den faden Brei und die klumpige Soße nicht vorsetzen. Gastmähler waren ebenso wichtig für Geschäftsleute wie die Verhandlungen im Kontor. Auch wenn die Gespräche bei Speis und Trank von allerlei Nebensächlichkeiten begleitet wurden, stand am Ende oft ein handfestes Ergebnis. An der Güte der Weine, des Biers und der Anzahl und Qualität der Gerichte beurteilte man einen
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