Hansetochter
Nackenhaare auf, und ein unwohles Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie fühlte sich beobachtet, wie schon häufiger in den letzten Tagen. Sie ließ ihre Waffe sinken und sah sich um. Die wenigen Blätter, die noch an den Büschen und Bäumen hingen, wippten im Regen. Ein Eichhörnchen zupfte an den Früchten eines uralten Baumes, dann hüpfte es davon. Kein Mensch war zu sehen.
Henrike hob erneut den Bogen. Ihr graute vor der Enge des Hauses, den Gedanken, die sich ihr aufdrängten, wenn sie zurRuhe kam, und vor dem Heimweh. Vor allem machten ihr die Trauer um den Vater und ihre eigene Hilflosigkeit zu schaffen. Immer wieder sah sie ihn beim Ratsball vor sich. Wie glücklich hatte er gewirkt! Und Simon – seine geschundenen Hände konnte sie nicht vergessen. Am liebsten würde sie einfach nach Lübeck reiten. Aber was wäre dann? Willkommen wäre sie dort nicht. Ihr Onkel würde sie strafen, seine Frau tatenlos zusehen, und dann war da noch Nikolas, dem es sicher ein Vergnügen wäre, ihr eine Lektion zu erteilen. Wie ging es wohl in dem Haus in der Alfstraße weiter? War der Alltag eingekehrt, jetzt, da der Kaiserbesuch vorüber war? Aber was hieß schon Alltag nach dem Tode des Vaters? Wurden seine Geschäfte einfach so weitergeführt? Und Adrian? Ob er noch in der Stadt war? Sie sah seine blauen Augen vor sich, hatte seine tiefe Stimme im Ohr, konnte seine Hand spüren, die ihre sanft umschloss. Der Ball im Rathaus kam ihr vor wie ein ferner Traum. Alles wäre anders gekommen, wenn ihr Vater nicht gestorben wäre. Vielleicht wäre sie längst verlobt oder gar verheiratet.
Ein weiteres Mal ließ sie die Sehne schnalzen, wurde aber im gleichen Moment von einem Knacken abgelenkt, weshalb sie den Bogen verriss. Auch das noch, jetzt war der Pfeil ins Gebüsch geschossen! Sie hätte schon längst aufhören sollen. Sie hob ihren Rocksaum, der nass und schwer geworden war. Am Gebüsch schob sie die Äste beiseite, ratschte sich an einem Dornenbusch. Leise fluchend führte sie den Finger mit der Wunde an ihren Mund und sog ein wenig Blut ein. Hier irgendwo müsste der Pfeil doch sein. Vielleicht sollte sie ihn morgen suchen, wenn der Regen aufgehört hatte. Ein weiteres Knacken. Ihr Herz schlug wie wild. Griseus kam bellend angerannt. Da sah sie ihn, den Pfeil!
»Du bist verrückt, Henrike! Hör endlich auf!«, hörte sie Katrine rufen. Die junge Frau kam aus dem Haus gelaufen und hielt ein Tuch als Regenschutz über dem Kopf. Asta hatte auch ihrgeraten, sich weiter im Bogenschießen und im Umgang mit dem Dolch zu üben, doch Katrine fertigte lieber kunstvolle Gürtel an. Auch heute hatte sie aufgehört zu üben, kaum dass der Regen eingesetzt hatte.
Henrike schnappte sich den Pfeil und lief so angespannt zurück zum Haus, als wäre sie eben einer Gefahr entronnen. Ihre Sorgen hatten sie misstrauisch gemacht, sie sah schon überall Gespenster. Andererseits war heute Allerheiligen, der Tag vor Allerseelen. Wandelten jetzt nicht die Toten auf Erden? Gedachte man nicht der Seelen im Fegefeuer, die die volle Gemeinschaft mit Gott noch nicht erreicht hatten? Sie hatte stets für ihren Vater gebetet, aber würde das ausreichen, damit er den Weg in den Himmel fand? Oder strich er wie ein Geist um sie herum?
Vor dem Eingang stand ein Karren mit immergrünen Ästen. Die Knechte machten Fackeln bereit. Als Henrike eintrat, lief ihr juchzend ein Junge mit einem Krapfen entgegen, den die Köchin am Kragen zu packen versuchte. Sobald er draußen war, scharten sich die anderen Kinder um ihn, um sich Stücke des süßen Gebäcks abzuzupfen – die Köchin gab gutwillig lachend auf. Im ganzen Haus roch es nach Krapfen, auf jeder Fensterbank schien einer zu liegen.
»Jungfer Henrike, schaut Euch nur an, Ihr seid ganz durchnässt!«, warf ihr Katrine nun vor. »Zieht Euch schnell um, wir wollen los!«
Aber wohin? Und warum hatte ihr niemand etwas gesagt?
Als Henrike fertig war, hatten sich die Bewohner des Hofes bereits vor der Tür versammelt. Nicht mehr lange, und es würde dunkel werden. Asta wartete auf Henrike und schritt dann mit ihr voraus, das Gesinde kam hinterher, lediglich zwei Knechte blieben zurück. Die Viehmutter stimmte ein langsames, getragenes Lied an, das gut zum Takt ihrer Schritte passte. Henrike kannte es nicht, es handelte von den Tagen der Toten, war aberwohl kein kirchliches Lied. Sie folgten einem schmalen Pfad Richtung Küste, durchquerten ein Wäldchen aus kleinen, sturmgebeugten Bäumen und
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