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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weiß
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bei der Eroberung Wisbys wieder ein. War sie vielleicht auch gewaltsam genommen worden? Hatte sie ein Kind bekommen? Aber was war daraus geworden? Ihre Tante nahm ihren früheren Gesprächsfaden wieder auf.
    »Wahre Gefühle lassen sich nicht für immer verdrängen. Als du an jenem Abend im Erntemonat vor meiner Tür standest,wollte ich mein Herz vor dir verschließen. Hatte ich doch meine Gefühle so sorgsam in mir vergraben! Als Nikolas dich aber überfiel, brach mein Widerstand. Und jetzt, wo ich endlich den Mut gefunden habe, zu dir zu stehen, sieht es so aus, als würden wir uns bald trennen müssen.«
    Henrike streichelte Astas Handrücken, der sich trocken wie Papier anfühlte. Sie wusste, dass ihre Tante die Wahrheit sprach.
    »Ich muss nach Lübeck zurück. Ich muss Onkel Hartwig Einhalt gebieten. Ich muss kämpfen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Ich bin doch nur eine Frau«, sagte Henrike nachdenklich.
    »Glücklicherweise haben wir etwas Zeit. Noch kannst du nicht zurück. Deine Wunden müssen verheilen. Außerdem würde Hartwig misstrauisch werden und merken, wenn du ihm etwas vorspielst. Wirklich in sich zu gehen, sich zu besinnen, sich abzufinden, braucht eine Weile   – ich weiß, wovon ich spreche. Und ob du im Winter reisen kannst, ist fraglich. Die Schneeverwehungen an der See sind tückisch. Diese Zeit müssen wir nutzen.« Astas Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Kennst du die Sage von den rasenden Weibern?«, fragte sie heiter.
    Henrike lächelte mit ihr, auch weil sie sich an Margarete erinnerte, die ihr oft vor dem Einschlafen diese und andere Sagen der lübischen Geschichte erzählt hatte. Als kleines Mädchen hatte sie die Sage von dem gewitzten Fischer Luba besonders gemocht, der seine Heimatstadt Lübeck bei einer Belagerung durch eine List gerettet hatte. Die Sage der rasenden Weiber oder der lübischen Amazonen, wie man sie auch nannte, war ähnlich.
    »Die Wenden«, begann Henrike, »ein heidnisches Volk, hielten Lübeck belagert. Sie plünderten und verbrannten alle Schiffe, dreihundert Männer erschlugen sie. Als die Weiber von Lübeck das sahen, nahmen sie aus der Jakobikirche eine Fahne, bewaffneten sich mit Spießen, Beilen, Zangen und Messern und vertrieben die feindlichen Wenden. Sie machten große Beute underoberten auch ein Abbild des heidnischen Gottes Temiel, den die Wenden hoch verehrten.«
    Asta nickte. »Jede Sage hat einen wahren Kern. Damals haben Frauen ihr Schicksal gewendet und sogar das Geschick dieser Stadt verändert.«
    »Aber heute   ...« Henrike zweifelte.
    »Denke an die Witwe Morneweg. Als ihr Mann Bertram, einer der Stifter des Heiligen-Geist-Hospitals, starb, hinterließ er seinem Eheweib ein Vermögen. Die kluge Frau führte seine Geschäfte fort. Sie vermehrte den Reichtum noch, verlieh Geld an Lübecker Bürger und machte ihren Sohn zum reichsten Mann seiner Zeit. Das alles ist keine hundert Jahre her.«
    Ein Lächeln zog über Henrikes Gesicht. »Und ich soll eine zweite Witwe Morneweg werden?«
    »Das nicht gerade. Ich wollte damit nur sagen, dass Frauen durchaus etwas bewirken können. Aber erst einmal musst du wieder ganz gesund werden.«
    ~~~
    Wie mit feinen Nadeln stach der Wind in ihre Wangen. Sie zog die Kapuze enger um ihr Gesicht. Asta sah auf das Meer hinaus. Die Wellen nahmen die Schneeflocken mit sich, verwandelten sie in Wasser. An einigen Stellen des Ufers hatten sich Eiskrusten gebildet. Grau und weiß waren die Schattierungen des Winters. Kaum konnte sie am Horizont erkennen, wo die Ostsee aufhörte und der Himmel begann. Der Schnee lag hoch, langsam und vorsichtig hatten ihre Pferde durch die weißen Wehen staksen müssen. Solange es so blieb, konnten sie das Gut noch nicht verlassen. Sie holte einige getrocknete Nüsse und Beeren hervor und legte sie vor das große Steingrab. Oft kam sie hierher, ließ sich nicht von Regen, nicht von Frost und nicht von Schnee abhalten. Hier konnte sie am besten ihren Gedankennachhängen, hierher war sie gekommen, als sie von Konrads Tod gehört und den Übergriff auf Henrike gerade noch verhindert hatte. Wie viele Erinnerungen in dieser Nacht in ihr aufgewühlt worden waren! An die Kämpfe vor Wisby, die Gesichter der Toten, ihren eigenen Kummer. Tief sog sie die Luft ein, schmeckte das Salz des Meeres auf ihren Lippen. Die Luft war so kalt, dass es fast schmerzte.
    Sie hatte versucht, diesen Teil ihres Lebens abzuschneiden wie einen alten Zopf. Aber er war noch da, das wusste sie jetzt.

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