Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
schließlich darauf aus Furcht, ich könnte das Mädchen aus den Augen verlieren. Dein Körper ist voll und ganz da, Mann, sagte ich mir. Wenn er abgestorben wäre, wenn nur noch das, was ich wohl als meine Seele zu bezeichnen hätte, da wäre, müsste es mir besser gehen. Wo bliebe denn, wenn die Seele auf ewig Bauchverletzungen, Magengeschwüre und Hämorrhoiden mit sich herumschleppen müsste, die Erlösung? Wenn die Seele sich nicht vom Körper löste, welche Daseinsberechtigung hätte sie dann noch?
Mit diesen Gedanken im Kopf lief ich hinter der beleibten jungen Frau her, ihrer olivgrünen Kampfjacke, dem wie angegossen sitzenden, rosafarbenen Rock, der darunter hervorlugte, und den rosafarbenen Joggingschuhen. Die schwankenden Ohrringe glitzerten im Licht der Taschenlampe. Als schwirrte ihr ein Paar Glühwürmchen um den Kopf.
Sie lief immer weiter, drehte sich nicht nach mir um und sagte keinen Ton. Als wüsste sie gar nicht mehr, dass ich da war. Sie lief nur weiter, mit ihrer Lampe flink die Abzweigungen und Höhlen ausleuchtend.
An einer Gabelung blieb sie stehen, holte die Karte aus der Brusttasche, hielt sie ins Licht und sah nach, in welche Richtung wir weitergehen mussten. Das gab mir Gelegenheit, zu ihr aufzuschließen.
»Alles in Ordnung? Sind wir noch richtig?«, fragte ich.
»Alles in Ordnung. Bis jetzt jedenfalls. Wir sind richtig«, antwortete sie mit fester Stimme.
»Woher weißt du das so genau?«
»Weil wir richtig sind«, sagte sie und richtete ihre Lampe auf den Boden. »Da, schau mal!«
Ich kauerte mich hin und starrte auf den ausgeleuchteten Kreis. In den Vertiefungen des felsigen Bodens glitzerte es hier und da silbern. Ich nahm eins der Glitzerdinger in die Hand; es war eine Büroklammer.
»Siehst du!«, sagte das Mädchen. »Großvater ist hier entlanggelaufen. Er wusste, dass wir kommen würden, und hat uns den Weg markiert.«
»Oh«, sagte ich.
»Eine Viertelstunde ist vorbei. Komm, weiter.«
Danach kamen noch ein paar Gabelungen, und an jeder wiesen Büroklammern den Weg, sodass wir uns nicht verliefen und außerdem wertvolle Zeit sparten.
Hier und da taten sich im Boden tiefe Löcher auf. Auf dem Plan waren die Stellen mit rotem Filzstift gekennzeichnet, und sobald wir uns einer näherten, machten wir etwas langsamer und leuchteten beim Gehen den Boden aus. Die Löcher hatten etwa fünfzig bis siebzig Zentimeter Durchmesser, sodass man sie leicht umgehen oder überspringen konnte. Einmal ließ ich versuchsweise einen faustgroßen Stein, der in der Nähe lag, hineinfallen, aber man hörte ewig nichts. Als wäre er gleich bis Brasilien oder Argentinien durchgefallen. Mir zog sich bei der bloßen Vorstellung, fehlzutreten und in so ein Loch zu fallen, der Magen zusammen.
Der Weg, eine einzige Schlangenlinie, von der gelegentlich Seitenwege abgingen, führte immerfort nach unten. Steile Gefälle gab es zwar nicht, aber es ging stetig bergab. Mir kam es so vor, als würde mir Schritt für Schritt ein Stück der hellen überirdischen Welt entrissen.
Einmal umarmten wir uns unterwegs. Die kleine Frau blieb plötzlich stehen, drehte sich um, löschte das Licht und schlang beide Arme um mich. Dann tastete sie mit der Hand nach meinen Lippen und küsste mich. Ich umarmte sie auch und drückte sie sacht. Sich in der kohlrabenschwarzen Finsternis zu umarmen war merkwürdig. Stendhal hat etwas über Umarmungen im Dunkeln geschrieben, dachte ich. Ja, Stendhal. Aber den Buchtitel hatte ich vergessen. Ich versuchte mich zu entsinnen, aber er wollte mir nicht einfallen. Ob Stendhal einmal eine Frau im Dunkeln umarmt hat? Falls ich lebend hier herauskommen sollte und die Welt noch nicht untergegangen wäre, würde ich, nahm ich mir vor, nach diesem Buch von Stendhal suchen.
Der Melonenduft, der von ihrem Nacken ausgegangen war, war verflogen. Ihr Nacken roch nach dem Nacken eines siebzehnjährigen Mädchens. Ein Stück darunter roch es nach mir. Nach mir und meinem Leben, das sich in der Kampfjacke festgesetzt hatte. Nach den Gerichten, die ich gekocht, nach dem Kaffee, den ich verschüttet, nach dem Schweiß, den ich vergossen hatte. All das hatte sich in der Jacke festgesetzt. In der tiefen unterirdischen Dunkelheit, meine Arme um das siebzehnjährige Mädchen geschlungen, kam mir dieses Leben unwirklich vor, unwirklich und unwiederbringlich. Ich konnte mich erinnern, dass es einmal stattgefunden hatte. Aber dass ich es einmal würde wieder aufnehmen können, schien mir
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