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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schütter wie auf falschem Boden gepflanztes Kraut, und sein Gesicht bedeckten Altersflecken. Ein müder alter Mann. Die Menschen altern und sterben. Auch Genies.
    »Auf Wiedersehen«, sagte ich.
    Im Dunkeln hangelten wir uns das Seil hinab bis zur Wassergrenze. Ich kletterte voran; unten angekommen, gab ich mit der Taschenlampe Zeichen. Das Mädchen kam nach. Sich im Dunkeln ins Wasser gleiten zu lassen war irgendwie unheimlich, aber wir konnten es uns natürlich nicht aussuchen. Ich tauchte zuerst ein Bein ein und ließ mich dann bis zu den Schultern hineingleiten. Das Wasser war eiskalt, ansonsten aber offenbar in Ordnung: ganz normales Wasser, mit nichts versetzt. Ringsum war es still wie auf dem Grund eines Brunnens. Nichts rührte sich, die Luft nicht, das Wasser nicht, die Dunkelheit nicht. Nur die von uns im Wasser verursachten Geräusche hallten vielfach verstärkt durch die Dunkelheit, Geräusche wie von riesigem Seegetier, das Beute verschlingt. Im Wasser fiel mir ein, dass ich ganz vergessen hatte, mir vom Professor die Bauchwunde behandeln zu lassen.
    »Hier wird doch nicht dieser Krallenfisch herumschwimmen?«, fragte ich in die Richtung, in der ich das Mädchen vermutete.
    »Nein«, sagte es. »Der gehört ins Reich der Legende. Glaube ich jedenfalls.«
    Trotzdem wurde ich den Gedanken nicht los, dass aus den Tiefen plötzlich ein Riesenfisch auftauchen und mir die Beine zerfleischen würde. Dunkelheit fördert alle möglichen Ängste.
    »Und Egel?«
    »Keine Ahnung. Ich glaube aber nicht«, gab das Mädchen unbekümmert zur Antwort.
    Durch das Seil verbunden, umrundeten wir brustschwimmend, in ruhigen Zügen, damit das Gepäck nicht nass wurde, den »Turm«; auf der Rückseite sahen wir das Taschenlampenlicht des Professors. Es durchbohrte die Dunkelheit wie der Lichtstrahl eines zum Wasser gekrümmten Leuchtturmes und tauchte die Wasseroberfläche auf einer geraden Linie in fahles Gelb.
    »Immer in diese Richtung«, sagte die Kleine. Hauptsache also, das Licht auf dem Wasser und das Licht der Taschenlampe lagen auf einer Linie.
    Ich schwamm vor, sie hinterher. Abwechselnd hallte es von meinen, dann von ihren Wasserschlägen. Hin und wieder hielten wir inne und schauten zurück, um gegebenenfalls den Kurs zu korrigieren.
    »Pass auf, dass kein Wasser an die Sachen kommt«, rief das Mädchen. »Die Signalgeräte funktionieren nicht, wenn sie nass sind!«
    »Keine Sorge«, sagte ich. Tatsächlich bedurfte es jedoch einiger Anstrengung, die Sachen trocken zu halten. Ringsum war es stockdunkel, ich hatte keine Ahnung, bis wohin das Wasser eigentlich reichte. Manchmal wusste ich nicht einmal, wo sich meine Hände gerade befanden. Beim Schwimmen dachte ich an Orpheus, der, um ins Reich der Toten zu gelangen, den Styx überqueren musste. Auf der Welt wimmelt es nur so von Religionen und Mythen, doch wenn es um den Tod geht, sind sie alle mehr oder weniger gleich. Orpheus überquerte den Fluss der Finsternis in einem Nachen. Ich musste schwimmen, mein Bündel auf dem Kopf. Die alten Griechen waren schon clever, cleverer als ich jedenfalls. Meine Verletzung machte mir Sorgen, doch was half das schon? Wegen der Anspannung hielten sich die Schmerzen in Grenzen, und sterben würde ich schon nicht, auch wenn die Naht platzen sollte; so schlimm war die Wunde nun doch nicht.
    »Bist du wirklich nicht so böse auf meinen Großvater?«, fragte die Kleine. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sie wie weit entfernt war, so merkwürdig hallte es in der Dunkelheit.
    »Ich weiß nicht. Ich weiß es selbst nicht«, rief ich aufs Geratewohl. Auch meine eigene Stimme echote aus unbestimmbarer Richtung zurück. »Irgendwann eben beim Zuhören war mir plötzlich alles scheißegal.«
    »Scheißegal?«
    »So viel taugt mein Leben nicht. Und mein Gehirn auch nicht.«
    »Eben hast du aber gesagt, du wärst zufrieden mit deinem Leben!«
    »Nichts als Worte. Irgendein Banner braucht jede Armee.«
    Das Mädchen überlegte offenbar, was meine Worte zu bedeuten hätten. Schweigend schwammen wir weiter. Über dem unterirdischen See lag Stille, tief und schwer wie der Tod an sich. Wo war der Fisch, dieser unheimliche, krallenbewehrte Fisch? Irgendwo existierte er bestimmt! Schlief er auf dem Grund des Wassers? Oder schwamm er in einer anderen Höhle herum? Hatte er uns vielleicht gewittert und schoss gerade auf uns zu? Ich stellte mir vor, wie sich seine Krallen in meine Beine bohrten, und zitterte am ganzen Leibe. Sehr bald schon

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