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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich in einer Bierhalle Bruckner hörte.
    Außer mir waren nur drei andere Gäste da. Ein junges Pärchen und ein zierlicher alter Mann mit Hut. Der alte Mann nahm immer mal wieder einen Schluck von seinem Bier, das Pärchen dagegen, das sich leise über irgendetwas unterhielt, kümmerte sich fast gar nicht um seine Gläser. Eine typische Bierhalle an einem regnerischen Nachmittag.
    Ich hörte Bruckner, träufelte Zitronensaft auf meine fünf Austern, aß sie im Uhrzeigersinn auf und leerte meinen halben Liter. Die Zeiger der riesigen Bierhallen-Wanduhr würden in fünf Minuten drei Uhr anzeigen. Unter dem Zifferblatt standen sich zwei Löwen gegenüber, auf den Hinterpfoten, und drehten sich, vom Federwerk angetrieben, vor und zurück. Beides waren Männchen, die Schweife gebogen wie Garderobenhaken. Schließlich war die lange Bruckner-Sinfonie zu Ende, man wechselte zu Ravels Bolero. Eine merkwürdige Kombination.
    Ich bestellte ein zweites Bier und ging wieder pinkeln. Es lief und lief, wollte gar nicht mehr aufhören. Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich dermaßen viel Wasser lassen konnte, da aber nichts Dringendes anstand, ließ ich es in aller Ruhe laufen. Der Strahl hielt, glaube ich, bestimmt zwei Minuten. Im Hintergrund lief derweil Bolero. Zu Ravels Bolero zu urinieren war irgendwie seltsam. Ich hatte das Gefühl, dass es ewig weiterfließen würde.
    Nach der langen Pinkelei fühlte ich mich wie neu geboren. Ich wusch mir die Hände, warf einen Blick in den verzerrenden Spiegel, ging zum Tisch zurück und trank mein Bier. Ich wollte mir eine Zigarette anstecken, stellte aber fest, dass ich die Schachtel Lark zu Hause in der Küche liegen gelassen hatte, rief den Kellner, kaufte bei ihm eine Packung Seven Stars und bekam Streichhölzer dazu.
    In der leeren Bierhalle hatte man das Gefühl, die Zeit stünde still, tatsächlich jedoch rückte sie unerbittlich vor. Die Löwen vollführten abwechselnd ihre 180-Grad-Drehungen, die Uhrzeiger standen schon auf zehn nach drei. Die Ellbogen aufgestützt, starrte ich auf diese Zeiger, Bier trinkend, rauchend. Die Zeit damit zu verbringen, eine Uhr anzustarren, war die pure Sinnlosigkeit, aber etwas Besseres fiel mir nicht ein. Fast alles Handeln des Menschen kommt aufgrund der Prämisse zustande, dass man noch lange zu leben hat; fällt diese Prämisse weg, bleibt so gut wie nichts.
    Ich zog mein Portemonnaie aus der Hosentasche und schaute nach, was alles drin war. Fünf Zehntausender, ein paar Tausender. In der rückwärtigen Falte zwanzig mit einer Klammer zusammengehaltene Zehntausender. Außer dem Bargeld enthielt das Portemonnaie zwei Kreditkarten, American Express und Visa, ferner zwei Bankkarten. Die Bankkarten zerbrach ich und warf sie in den Aschenbecher. Ich würde sie sowieso nicht mehr gebrauchen können. Die Klubkarte fürs Hallenbad, die des Videoverleihs und die Rabattheftchen zum Abstempeln, die man beim Kaffeekauf bekommt, gingen denselben Weg. Den Führerschein behielt ich, zwei alte Visitenkarten warf ich fort. Der Aschenbecher war voll mit den Überresten meines Lebens. Was mir am Ende blieb, waren Bargeld, Kreditkarten und der Führerschein.
    Als die Zeiger der Uhr auf halb vier vorrückten, erhob ich mich, zahlte und ging. Der Regen hatte fast gänzlich nachgelassen, sodass ich den Schirm im Schirmständer stehen ließ. Kein schlechtes Zeichen: Das Wetter erholte sich, mir wurde leichter ums Herz.
    Ohne Schirm fühlte ich mich richtig befreit und bekam Lust, woanders hinzugehen. Möglichst dahin, wo viele Menschen zusammenkommen. Am Sony Building blieb ich eine Weile stehen und sah mir zusammen mit einer Gruppe arabischer Touristen das Spalier der laufenden Fernsehmonitore an, dann stieg ich die Stufen zur U-Bahn hinab und löste ein Ticket für die Marunouchi-Linie, bis Shinjuku. Sobald ich saß, muss ich eingenickt sein, denn als ich die Augen aufschlug, lief die Bahn schon in Shinjuku ein.
    An der Sperre fiel mir ein, dass ich hier ja den Schädel und die geshuffelten Daten zur Gepäckaufbewahrung gegeben hatte. Zwar wusste ich nicht, was ich mit den Sachen jetzt noch anfangen sollte, hatte auch den Gepäckschein nicht dabei, aber da ich sonst nichts zu tun hatte, beschloss ich, die Sachen auszulösen. Ich nahm die Treppe hoch zur temporären Gepäckaufbewahrung und sagte dem Mann am Schalter, ich hätte den Schein verloren.
    »Haben Sie denn auch gründlich gesucht?«, fragte er.
    Ja, das hätte ich, sagte ich.
    »Um was handelt es sich

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