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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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kennen zu lernen. Oder, realistischer – ob tatsächlich realistischer, sei dahingestellt –, dass es möglich sein müsste, ein meinem ureigenen Ich angemesseneres, nützlicheres Leben zu führen. Auf dieses Ziel hin trainierte ich sogar, übte die Selbstrevolution. Ich las Die grüne Revolution und schaute mir dreimal Easy Rider an. Und doch kam ich, wie ein Boot mit verkantetem Ruder, immer wieder an dieselbe Stelle zurück. Zu meinem Ich. Mein Ich ging nirgendwo hin. Es blieb, wo es war, und wartete, dass ich zurückkäme.
    Wie nennt man das? Verzweiflung?
    Ich weiß es nicht. Vielleicht. Turgenjew würde es wahrscheinlich Desillusionierung nennen. Dostojewski würde es als Hölle bezeichnen. Und Somerset Maugham als Realität. Doch wer immer welchen Namen dafür findet, es ist mein Ich.
    Eine Welt der Unsterblichkeit konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht würde ich dort wirklich wiederfinden, was ich verloren hatte, und ein neues Ich etablieren. Vielleicht klatschte jemand in die Hände, vielleicht erteilte mir jemand seinen Segen. Und ich würde glücklich werden, würde ein meinem ureigenen Ich angemessenes, nützliches Leben führen können. Doch das wäre ein anderes Ich, hätte mit mir hier und jetzt nicht das Geringste zu tun. Ich jetzt und hier hatte mein jetziges Ich. Das war eine historische Tatsache, an der niemand rütteln konnte.
    Am Ende meiner Überlegungen kam ich zu dem Schluss, die bessere Annahme sei, dass ich in zweiundzwanzig Stunden und ein paar Minuten sterben würde. Alle Überlegungen eines Überganges in eine Welt der Unsterblichkeit klangen nach Lehren des Don Juan, hatten einen schlechten Beigeschmack.
    Also dachte ich, aus praktischen Gründen: Ich werde sterben. Das klang eher nach mir. Und es verschaffte mir ein wenig Erleichterung.
    Ich drückte meine Zigarette aus, ging ins Schlafzimmer, betrachtete dort eine Weile das Gesicht des schlafenden Mädchens und vergewisserte mich dann, dass ich alles Notwendige eingesteckt hatte. Doch wenn ich genau, wirklich genau überlegte, gab es fast nichts mehr, was ich jetzt noch brauchte. Geldbörse und Kreditkarte – und was sonst? Die Tür brauchte ich nicht abzuschließen. Meine Kalkulator-Lizenz? Unnötig. Auch das Notizbuch war überflüssig, ebenso die Autoschlüssel, da ich den Wagen irgendwo hatte stehen lassen. Nicht einmal das Messer brauchte ich mehr. Münzgeld? Auch das war nicht nötig. Ich legte alles, was ich in den Hosentaschen hatte, auf den Tisch.
    Zuerst fuhr ich mit der Bahn zur Ginza, kaufte bei Paul Stuart ein Hemd, eine Krawatte und einen Blazer und bezahlte mit meiner American Express Card. So angezogen machte ich vor dem Spiegel keine schlechte Figur. Nein, ganz und gar keine schlechte Figur. Gut, die Bügelfalte der olivgrünen Leinenhose war kaum mehr zu sehen, doch wer sprach schon von Perfektion? Der marineblaue Flanellblazer und das dunkelorangefarbene Hemd verliehen mir in der Kombination das Flair eines jungen, aufstrebenden Werbeagenturangestellten. Jedenfalls sah ich nicht mehr aus wie einer, der eben noch unter der Erde umhergekrochen ist und in zirka einundzwanzig Stunden von der Bildfläche verschwinden wird.
    Mir fiel auf, dass, wenn ich gerade stand, der linke Ärmel des Blazers um anderthalb Zentimeter kürzer war als der rechte. Das heißt, genau genommen war nicht der Ärmel zu kurz, sondern mein linker Arm zu lang. Wieso, war mir ein Rätsel. Ich bin Rechtshänder und konnte mich nicht entsinnen, den linken Arm überaus beansprucht zu haben. Der Verkäufer empfahl mir, den Saum etwas auszulassen, das ließe sich in zwei Tagen leicht bewerkstelligen; ich lehnte selbstverständlich ab.
    »Spielen Sie vielleicht, wenn ich fragen darf, Baseball?«, fragte der Verkäufer, während er mir die Kreditkartenquittung gab.
    Ich verneinte.
    »Die meisten Sportarten führen zu körperlichen Verzerrungen«, belehrte er mich. »Was Anzüge angeht, können übermäßige Bewegung, übermäßiges Essen und Trinken nur schaden.«
    Ich bedankte mich und ging. Die Welt ist voller Regeln und Gesetze. Wer will, entdeckt bei jedem Schritt ein neues.
    Es regnete immer noch, aber vom Kleiderkaufen hatte ich genug, sodass ich auf den Trenchcoat verzichtete und stattdessen in eine Bierhalle einkehrte, wo ich Bier vom Fass trank und frische Austern aß. In der Bierhalle spielte man merkwürdigerweise eine Sinfonie von Bruckner. Die Nummer wusste ich nicht, aber wer weiß die schon? Jedenfalls war es das erste Mal, dass

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