Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
sieht mich an.
»Warum? Jeder kann den Schnee sehen.«
»Mir ist heute nicht danach, alte Träume zu lesen, ich möchte viel lieber mit dir reden«, sage ich. »Über etwas sehr Wichtiges. Ich habe dir viel zu sagen, ich will aber auch einiges von dir erfahren. Okay?«
Sie faltet ihre Hände auf dem Tisch, sieht mich verdutzt an und nickt, ohne zu wissen, wohin das Gespräch führen wird.
»Mein Schatten liegt im Sterben«, beginne ich. »Wie du sicher weißt, ist der Winter dieses Jahr besonders streng, und der Schatten wird ihn kaum überstehen. Ich glaube, er macht es nicht mehr lange. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Wenn er stirbt, verliere ich meine Seele – für immer. Deshalb muss ich hier und jetzt einige Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die mich selbst betreffen, die dich betreffen – ach, und noch alles Mögliche. Zeit zum Nachdenken bleibt mir kaum noch, doch selbst wenn ich so viel Zeit gehabt hätte, wie ich wollte – ich glaube, es wäre letztendlich dasselbe dabei herausgekommen. Mein Entschluss steht fest.«
Ich trinke meinen Kaffee und wälze im Kopf noch einmal den Entschluss, den ich gefasst habe, prüfe, ob es auch der richtige ist. Er ist richtig. Doch so viel ist sicher: Egal, welchen Weg ich einschlage, ich werde immer verlieren dabei, viel verlieren, unwiederbringlich.
»Ich werde morgen Nachmittag sehr wahrscheinlich die Stadt verlassen«, sage ich. »Ich habe keine Ahnung, von wo aus und wie. Das weiß der Schatten. Wir werden die Stadt zusammen verlassen, in unsere alte Welt zurückkehren und dort leben, wo wir hergekommen sind. Ich werde wie früher meinen Schatten mit mir herumtragen, zweifeln und leiden, alt werden und sterben. Ich glaube, die Welt da draußen passt besser zu mir. Ich werde damit leben müssen, von meiner Seele gebeutelt und hin- und hergerissen zu werden. Du wirst das wahrscheinlich nicht verstehen können, aber …«
Sie sieht mich forschend an – nein, es wirkt vielmehr so, als würde sie auf einen Fleck in der Luft starren, wo sich zufällig mein Gesicht befindet.
»Gefällt es dir hier nicht?«
»Du hast mir ganz zu Anfang einmal gesagt, wenn es Ruhe wäre, nach der ich suchte, würde es mir bestimmt gefallen in der Stadt. Und tatsächlich gefallen mir die Ruhe und der Friede hier. Ich weiß auch, dass dieser Friede vollkommen wird, sobald ich meine Seele verloren habe. Hier gibt es nichts, was den Menschen Schmerzen zufügen könnte. Wahrscheinlich werde ich mein ganzes Leben lang bereuen, dass ich die Stadt aufgegeben habe. Trotzdem – ich kann nicht bleiben, es geht einfach nicht. Meine Seele lässt nicht zu, dass der Schatten und die Tiere geopfert werden, damit ich hier bleiben kann. Und deshalb, egal, wie viel Ruhe und Frieden ich auch bekommen würde, kann ich meine Seele nicht täuschen, selbst wenn ebendiese Seele bald unwiederbringlich verschwindet. Das ist wieder eine andere Sache. So etwas wie die Seele bleibt für immer verletzt, wenn man sie einmal hintergeht, selbst wenn sie vollkommen ausgelöscht wird. Kannst du verstehen, was ich sagen will?«
Sie starrt schweigend auf ihre Finger. Lange, so lange, bis der Kaffee in ihrer Tasse aufhört zu dampfen. Im Zimmer rührt sich nichts, man könnte eine Stecknadel fallen hören.
»Du kommst nie mehr zurück, nicht wahr?«
Ich nicke. »Wenn ich einmal weggehe, kann ich nie mehr zurück. So viel steht fest. Selbst wenn ich es versuchen würde – die Tore der Stadt würden sich für mich nicht mehr öffnen.«
»Und das macht dir gar nichts aus?«
»Dich zu verlieren ist sehr schlimm für mich. Aber ich liebe dich, und das ist das Wichtigste. Dass dieses Gefühl da ist, meine ich, und dass es bleibt. Ich kann nicht zulassen, dass es unnatürlich verkommt, abflacht – dieser Preis, dich zu besitzen, wäre mir zu hoch. Bevor es so weit kommt, ist es für mich erträglicher, dich hier und jetzt und im Vollbesitz meiner Seele zu verlieren.«
Wieder senkt sich Schweigen über den Raum. Die Kohle im Ofen knistert und knackt übertrieben laut. Neben dem Ofen hängen mein Mantel, der Schal, die Mütze und die Handschuhe. Alles habe ich von der Stadt bekommen. Schlichte Kleidung, aber sie gefällt mir, ich habe mich von ganzem Herzen daran gewöhnt.
»Ich habe auch daran gedacht, dem Schatten die Flucht zu ermöglichen und alleine hier zu bleiben«, sage ich ihr. »Doch dann würde ich in den Wald verbannt und könnte dich nie mehr wieder sehen. Für dich ist es unmöglich, im Wald zu
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