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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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leben. Das können nur Menschen, die ihren Schatten nicht nach den Vorschriften der Stadt opfern konnten und deshalb noch Seele in sich haben. Ich habe eine Seele, du nicht, deshalb … Nicht einmal sehnen könntest du dich nach mir!«
    Sie nickt leise. »Ja, es stimmt, ich habe keine Seele. Meine Mutter hatte eine, aber ich nicht. Und weil sie noch ein Stück Seele besaß, hat man sie in den Wald verbannt. Ich habe dir das bisher verschwiegen, aber ich weiß noch ganz genau, wie sie verjagt wurde. Ich muss auch heute noch oft daran denken.
    Wenn ich nur eine Seele hätte … dann hätte ich damals bei ihr bleiben können, ich hätte mit ihr zusammen im Wald leben können. Und jetzt … ich würde mich nach dir sehnen können, wenn ich nur eine Seele hätte!«
    »Du willst eine Seele haben, selbst wenn du dann in den Wald verbannt würdest?«
    Sie starrt weiter auf ihre gefalteten Hände auf dem Tisch. Plötzlich spreizt sie die Finger. »Meine Mutter hat gesagt, solange man nur seine Seele habe, gäbe es nichts zu verlieren, egal, wohin man ginge. Ich erinnere mich gut daran. Stimmt das?«
    »Ich kann es dir nicht sagen«, sage ich. »Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber deine Mutter hat doch daran geglaubt, oder? Das Problem ist, ob du selbst daran glauben kannst.«
    »Ich denke, ich kann«, sagt sie und sieht mir tief in die Augen.
    »Ist das wahr?«, frage ich überrascht nach. »Du kannst wirklich daran glauben?«
    »Vielleicht«, sagt sie.
    »Denk ganz genau nach. Das ist jetzt sehr, sehr wichtig«, sage ich. »An etwas zu glauben, egal woran, ist nämlich nichts anderes als eine Funktion der Seele.Verstehst du? Gesetzt den Fall, du könntest wirklich an etwas glauben, und gesetzt den Fall, dieser Glaube würde sich als falsch erweisen, dann müsstest du Enttäuschung spüren können, und das ist eine Regung der Seele, eindeutig. – Hast du eine Seele?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe vorhin nur an das gedacht, was meine Mutter gesagt hat, weiter nichts. Es muss mir doch möglich sein, daran zu glauben, hab ich gedacht, mehr nicht.«
    »Ich glaube, dass tief in dir drin noch irgendetwas übrig geblieben ist, das mit der Seele in Zusammenhang steht. Es scheint nur tief verschüttet zu sein und dringt nicht nach außen. Deshalb hat dich die Mauer bisher in Ruhe gelassen, sie konnte es nicht finden!«
    »Du meinst, dass ich meinen Schatten auch nicht richtig opfern konnte, genau wie meine Mutter, dass ich also noch Seele habe?«
    »Nein, wahrscheinlich nicht. Dein Schatten muss tatsächlich gestorben sein, hier in der Stadt, er liegt im Apfelwäldchen begraben. Das steht auch so in den Akten. Nein, bei dir scheint eher so etwas wie ein Nachbild oder ein Fragment der Seele deiner Mutter weiterzuexistieren, vermittelt durch deine Erinnerung an sie. Das wird es sein, was dich durcheinander bringt. Und ich glaube, wenn du dem nachspürst, werden wir einer Lösung näher kommen.«
    Es ist unnatürlich still im Zimmer. Draußen tanzt der Schnee; er scheint jegliche Geräusche wie Watte aufzusaugen. Ich schätze, irgendwo da draußen hält die Mauer den Atem an und spitzt die Ohren, um unser Gespräch zu belauschen. Es ist viel zu still.
    »Lass uns über die alten Träume reden«, sage ich. »Tag für Tag wird alles, was eure Seelen absondern, von den Tieren absorbiert, und das werden dann die alten Träume, nicht wahr?«
    »Ja, genau. Sobald die Schatten tot sind, werden unsere Seelen von den Tieren restlos eingezogen, aufgesogen und weggebracht.«
    »Aber müsste ich dann nicht aus den alten Träumen nach und nach deine Seele herauslesen können?«
    »Nein, das geht nicht. Die Seelen werden nämlich nicht als Ganzes aufgesogen, sondern zerstückelt. Die Einzelteile meiner Seele befinden sich also in den Schädeln verschiedener Tiere, auf das Komplizierteste verwoben mit den Seelenfragmenten anderer Leute, sodass man sie nicht gesondert herauslesen kann. Zu unterscheiden, was davon zu mir und was zu anderen Menschen gehört, wird dir unmöglich sein. Du liest jetzt schon so lange alte Träume, aber könntest du benennen, welches davon meine waren? – Du kannst es nicht, nicht wahr? So ist das mit den alten Träumen. Niemand kann sie entwirren. Das Chaos bleibt Chaos und wird als Chaos ausgelöscht.«
    Ich verstehe nur zu gut, was sie sagen will. Tag für Tag habe ich alte Träume gelesen, die ganze Zeit über, doch verstanden habe ich kein Fitzelchen, das Sinn gemacht hätte. Jetzt bleiben

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